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 „Die Zünfte konnten nicht das große Ziel erreichen, zu welchem jetzt die freien Genossenschaften einen großartigen Anlauf genommen haben – das Ziel, die Unterschiede der gesonderten Klassen zu verwischen, den Übergang aus dem Ständestaat in den Rechtsstaat, die große wirtschaftliche und politische Aufgabe der Zeit, mit erfüllen zu helfen.“

Hermann Schulze-Delitzsch

Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte bereits 1803 sein Ende gefunden. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurden die Verstaatlichung kirchlicher Institutionen (Säkularisation) und das Ende der Kleinstaaterei (Mediatisierung) eingeleitet. Damit verschwanden auch in Bayern endgültig die mittelalterlichen Formen des genossenschaftlichen Wirtschaftens. Bestehende Strukturen wie die klösterliche Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Krediten lösten sich auf, neue waren noch nicht in Sicht.

Mit der Verfassung vom 26. Mai 1818 verwirklichte Bayern, das erst 1806 zum Königreich erhoben worden war, zum ersten Mal das parlamentarische Prinzip der Volksrepräsentation. Außerdem wurde das konstitutionelle System weiter ausgestaltet und die Grundlage des heutigen Rechtsstaats geschaffen. Für die ländliche Bevölkerung brachte die Verfassung von 1818 zunächst jedoch keine Verbesserung ihrer prekären Lage. Zwar war die Leibeigenschaft bereits 1808 endgültig abgeschafft worden, doch die private adelige Gerichtsbarkeit und Verwaltung - die sogenannte Patrimonialgerichtsbarkeit - wurde nicht nur aus dem Mittelalter übernommen und beibehalten, sondern 1818 sogar verfassungsmäßig garantiert. Auf diese Weise konnte der erste bayerische König Max I. Joseph (1806-1825) die adeligen Grundbesitzer davon überzeugen, als Mitglieder der Ständeversammlung die Schulden des bankrotten bayerischen Staats zu übernehmen und somit dessen Kreditwürdigkeit wiederherzustellen. Die Ständeversammlung war erstmals im Februar 1819 zusammengetreten und bestand aus zwei Kammern (ab 1848 „Landtag“).

Bayerischer Landtag in München
Sitz des Parlaments: Das Maximilianeum in München wurde von König Max II. in Auftrag gegeben und in den Jahren 1857 bis 1874 errichtet. 1949 wählte der Bayerische Landtag das Gebäude zu seinem Sitz. Foto: picture alliance/Westend61
Ständeversammlung in München, 1819
Eröffnung der ersten Ständeversammlung am 4. Februar 1819 in München. Die Einführung einer Verfassung änderte erstmals nichts an der Not der ländlichen Bevölkerung. Foto: picture alliance/akg

Der als Kronprinz durchaus liberale und verfassungsfreundliche Ludwig I. entwickelte sich nach seinem Regierungsantritt 1825 immer mehr zum Verfassungsfeind und fürchtete zunehmend eine bürgerliche Revolution. Im Revolutionsjahr 1848 dankte er freiwillig ab und kam so einem möglichen Sturz zuvor. In seiner Regierungszeit wurden keinerlei Reformen beschlossen, die an der misslichen Lage der ländlichen Bevölkerung etwas verbessert hätten. Konkrete Anstöße zur Lösung der sozialen Missstände, die sich durch die beginnende Industrialisierung noch verschärft hatten, kamen in dieser Zeit nicht von staatlicher, sondern vielmehr von privater Seite, beispielsweise durch den 1810 gegründeten Landwirtschaftlichen Verein in Bayern, dessen engagierte Tätigkeit vom bayerischen Staat wohlwollend begleitet wurde.

Das Revolutionsjahr

Der bayerische Staat stand schon der Hungerkrise 1816/17 weitestgehend hilflos gegenüber und war nicht in der Lage, die Bevölkerung nach der Plünderung der Getreidespeicher im Zuge der Säkularisation mit ausreichend Nahrungsmitteln zu versorgen. Auch der Hungersnot 1846/47 hatte die Staatsregierung nichts entgegenzusetzen. Daher forderte das liberale Bürgertum im Revolutionsjahr 1848 nicht nur freie Wahlen und die Bekämpfung der Not der Arbeiter, sondern ebenso das Ende der Grunduntertänigkeit und der persönlichen Abhängigkeit der Bauern. Die Revolutionäre sahen in der adeligen Grundherrschaft den Hauptgrund für die erneute Hungerkrise. Außerdem forderten sie die Erleichterung von Vereinsgründungen, was ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung des Genossenschaftswesens in Bayern war.
 
Zwar hatte Ludwig I. unter dem Druck der Öffentlichkeit in seinem „Märzerlass“ von 1848 weitreichende Zugeständnisse an das liberale Bürgertum gemacht, die Durchführung der angekündigten Reformen überließ er aber seinem Sohn und Nachfolger Max II. Dieser kam den Forderungen des liberalen Bürgertums zwar zunächst nach, versuchte in der Folge jedoch, einige der Zugeständnisse zurückzunehmen. Obwohl das 1850 erlassene „Gesetz, die Versammlungen und Vereine betreffend“ (Vereinsgesetz) allen bayerischen Staatsangehörigen das Recht gab, „sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, stand Max II. vor allem „Assoziationen“ und Vereinen weiter ablehnend gegenüber.

Anders als sein Vater sah Max II. in den sozialen Missständen die größte Gefahr für die Monarchie. Einen Ausweg sah er in der vollkommenen Neustrukturierung der Gesellschaft einschließlich des Bauernstands. Die entscheidende Entwicklung hin zu einer vollständigen „Bauernbefreiung“ läutete Bayern im Juni 1848 unter Max II. mit dem „Gesetz, die Aufhebung der standes- und gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, dann die Aufhebung, Fixierung und Ablösung von Grundlasten betreffend“ ein. Dadurch wurde die standes- und gutsherrliche Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt auf den Staat übertragen.

Bayerns Könige

König Max I. Joseph von Bayern
Reformer und Skeptiker: Die Entwicklung Bayerns hin zu einem modernen Rechtsstaat fiel in die Ära von vier Königen. Max I. Joseph (Regierungszeit 1806 bis 1825) galt als bürgernah. Unter ihm erhielt Bayern 1818 seine erste Verfassung. Foto: picture alliance/akg
König Ludwig I. von Bayern
Ludwig I. (1825 bis 1848) entwickelte sich in seiner Regierungszeit immer mehr zum Verfassungsfeind. 1848 dankte er ab, um einem Sturz durch die Märzrevolutionäre zuvorzukommen. Foto: picture alliance/akg
König Max II. Joseph von Bayern
Max II. Joseph (1848 bis 1864) versuchte, Zugeständnisse an das liberale Bürgertum aus der Märzrevolution 1848 wieder zurückzunehmen. Vereinen und Assoziationen – aus denen auch die Genossenschaften hervorgegangen sind – stand er ablehnend gegenüber. Foto: picture alliance/akg
König Ludwig II. von Bayern
Ludwig II. ist heute als „Märchenkönig“ verrufen, in seine Regierungszeit (1864 bis 1886) fallen jedoch wichtige Reformen. Unter anderem wurde 1869 das bayerische Genossenschaftsgesetz beschlossen. Foto: picture alliance/akg

Kleinbauern erhalten keine Kredite

In der Folge wurden die bayerischen Bauern zwar von den früheren Lasten befreit, zugleich verloren sie aber den Schutz und die Versorgung durch ihren ehemaligen Feudalherren. Sie mussten sich auf dem Markt behaupten, unternehmerisch agieren und zudem Grundablösungen, Investitionen, Abfindungen weichender Erben bei einer Hofübergabe ohne Realteilung sowie kurzfristige Betriebsmittelkredite bezahlen.

Hierzu stand ihnen jedoch keine kurzfristige Kreditfinanzierung zur Verfügung. Die Klöster waren nach der Säkularisation als Kreditgeber verschwunden. Das Kreditwesen Mitte des 19. Jahrhunderts bestand lediglich aus drei Bankengruppen, den zu dieser Zeit noch dominierenden Privatbanken, den Staatsbanken sowie den sogenannten „Landschaften“ und „Ritterschaften“. Sie waren jedoch an einer Kreditvergabe an Kleinbauern oder das ländliche Gewerbe nicht interessiert. Die entstehenden Aktienbanken und Großbanken konzentrierten sich mit ihren Bankleistungen hauptsächlich auf die sich rasch entwickelnde Industrie und den Handel.

Somit gerieten vor allem Kleinbauern zunehmend in die Abhängigkeit von „Wucherern“ und Viehhändlern. Auch die von König Ludwig I. gegründeten sogenannten „Kreishilfskassen“, die bei unverschuldeten Notlagen günstige Darlehen an die ländliche Bevölkerung in Bayern vergaben, konnten das Kreditbedürfnis der Landwirte nicht decken und somit deren prekäre Situation nicht nachhaltig verbessern.

Joseph Völk ergreift die Initiative

Viele Protagonisten der bürgerlichen Revolution von 1848 trieben auch die Genossenschaftsbewegung in Bayern voran. Hierzu zählte der schwäbische Landtagsabgeordnete Dr. Joseph Völk, der auch als „bayerischer Schulze-Delitzsch“ bekannt wurde. Nachdem sein Vorbild, der Genossenschaftsgründer Hermann Schulze-Delitzsch, 1863 den Entwurf eines Genossenschaftsgesetzes im preußischen Landtag eingebracht hatte, beschäftigte sich auch der bayerische Landtag mit dem Thema. Völk legte dazu den Gesetzentwurf von Schulze-Delitzsch vor und forderte die bayerische Regierung auf, ihrerseits ein Genossenschaftsgesetz für das Königreich Bayern auszuarbeiten:

„Ich stelle hiernach den Antrag: Die Hohe Kammer der Abgeordneten wolle beschließen, es sei an Seine Majestät den König die alleruntertänigste Bitte zu richten: Dem Landtag einen Gesetzentwurf allergnädigst vorlegen zu lassen, wodurch die privatrechtliche Stellung der auf Selbsthülfe beruhenden Erwerb- und Wirtschaftsgenossenschaften geregelt werde.“

Das bayerische Genossenschaftsgesetz von 1869

Die bayerische Regierung unter Ludwig II. reagierte jedoch erst nach der Niederlage im deutschen Bruderkrieg 1866 und nachdem 1867 in Preußen und 1868 im Norddeutschen Bund ein Genossenschaftsgesetz erlassen worden war. Das bayerische Genossenschaftsgesetz vom 29. April 1869 orientierte sich zwar deutlich an den Vorbildern Preußens und des Norddeutschen Bunds, wich aber in einem entscheidenden Punkt davon ab, denn es sah auch Genossenschaften mit beschränkter Haftung vor. Schulze-Delitzsch kritisierte das bayerische Gesetz daraufhin massiv. Für den Genossenschaftspionier aus Sachsen war die Solidarhaftung aller Mitglieder obligatorisch. Völk hingegen wollte mit der beschränkten Haftpflicht den Widerstand der bayerischen Gewerbetreibenden gegen die Gründung von Genossenschaften brechen.

Das „Gesetz, die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthschafts-Gesellschaften betreffend“ vom 29. April 1869 führte jedoch nicht zu einer plötzlichen Ausbreitung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens in Bayern. Während sich bereits zu Beginn der 1860er Jahre gewerbliche Genossenschaften gegründet hatten, entstand die erste Spar- und Darlehenskasse nach den Ideen Raiffeisens erst 1877 im unterfränkischen Theilheim. Am 23. Juni 1873 übernahm Bayern vom Norddeutschen Bund das „Gesetz, betreffend die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften“ von 1868. Damit galt auch in Bayern die unbeschränkte Haftpflicht für Genossenschaften, die im 1889 erlassenen Reichsgesetz über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften beibehalten wurde. Diese Bestimmung war von zentraler Bedeutung für die Gründung von genossenschaftlichen Zentralkassen, die den Geldausgleich der kleinen Spar- und Darlehenskassen bewerkstelligten und wesentlich zum erfolgreichen Ausbau des Genossenschaftswesens beitrugen.

Diese Entwicklung wäre so nicht möglich gewesen, wenn Bayern in den Jahrzehnten zuvor nicht bereit gewesen wäre, politische Reformen anzugehen und den Übergang von einem feudalen in einen Rechtsstaat zu gestalten. So gesehen war die bayerische Verfassung von 1818 nicht nur der Grundstein der parlamentarischen Demokratie in Bayern, sondern auch eine Voraussetzung für die Gründung von modernen Genossenschaften auf rechtsstaatlicher Basis. Beim Abbau sozialer Missstände erwies sich der Staat jedoch als weit weniger erfolgreich. Die Not der ländlichen Bevölkerung zu lindern, bleibt deshalb vor allem das Verdienst der Genossenschaften.

Sana’a Wittmann ist Mitarbeiterin des Historischen Vereins Bayerischer Genossenschaften.

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