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Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde am 30. März 1818 im Westerwald geboren. Sein Konterfei schmückt Briefmarken und Sondermünzen. Mehrere 100 Straßen und Plätze im Freistaat tragen seinen Namen. Nahezu jeder vierte Bayer ist Mitglied in einer der 1.260 genossenschaftlichen Unternehmen. Damit bilden die bayerischen Genossenschaften eine der größten mittelständischen Wirtschaftsorganisationen im Freistaat. Aber wer ist der Genossenschaftspionier Raiffeisen eigentlich – und was hat er uns heute noch zu sagen? Ein Interview mit Jürgen Gros, Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB).
 

Herr Dr. Gros, in diesen Tagen jährt sich zum 200sten Mal der Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Feiern das die bayerischen Genossenschaften?

Jürgen Gros: Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist neben Hermann Schulze-Delitzsch der Gründungsvater der genossenschaftlichen Organisation. Da ist es doch klar, dass wir dieses Jahr immer wieder innehalten und an sein Lebenswerk erinnern. Mit vielen dezentralen Veranstaltungen der 1.260 Genossenschaften in Bayern, mit zentralen Veranstaltungen auf Bundesebene wie kürzlich in Mainz, bei Vertreterversammlungen, unserem GVB-Verbandstag im Sommer oder auch in Gesprächen, wie wir es gerade führen.
 

Was würde Raiffeisen heute auf seiner Geburtstagsfeier sagen?

Gros: Raiffeisen war ein bodenständiger Mensch. Von ihm stammt der herrlich pragmatische Satz: „Eine richtige Idee ist auch stets die beste Grundlage für die Praxis.“ Dass seine Idee richtig war, beweisen 2,9 Millionen Genossenschaftsmitglieder in Bayern, 22 Millionen genossenschaftliche Anteilseigner in Deutschland und rund eine Milliarde Menschen weltweit durch ihre Beteiligung an einer Genossenschaft. Genossenschaften sind Netzwerke von Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen, Interessen und Ideen. So gesehen hat Raiffeisen auf analoger Basis etwas geschaffen, was sich vom Ansatz her dann auch die Begründer der digitalen und sozialen Medien des 21. Jahrhunderts zu eigen gemacht haben, nämlich Menschen zu vernetzen.
 

Was zeichnet die Idee Raiffeisens noch aus?

Gros: Dazu könnte man einen abendfüllenden Vortrag halten. Gut auf den Punkt brachte es aber mal ein Biograf Raiffeisens. Er hat seinem Buch den Titel  „Ein Mann bezwingt die Not“ gegeben. Und in der Tat, Raiffeisen war davon beseelt, in einer Zeit wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Umbrüche die Existenz von Landbevölkerung, Handwerkern und Gewerbetreibenden zu sichern. Sein Rezept war einfach und fand Nachahmer. Die Menschen nahmen ihr Schicksal in eigene Hände, schlossen sich zusammen, gründeten Genossenschaften, sorgten selbst für ihr Dasein. Genossenschaften trugen dazu bei, die Lebensmittelversorgung aufrechtzuerhalten, dass Bauern und Handwerker Kredite bekamen, dass sie eine Grundlage zum Produzieren hatten. Raiffeisens Genossenschaftsidee wurde zum Schwungrad der regionalen Wirtschaft.
 

Schön und gut, aber Raiffeisen lebte im 19. Jahrhundert. Die Zeit vor 200 Jahren ist kaum mit der heutigen vergleichbar …

Gros: … vielleicht nicht materiell. Aber Umbrüche erleben doch auch wir fortwährend. Manche augenscheinlicher, andere schleichend. Als vor zehn Jahren die Finanzkrise ausbrach und viele große Banken in Not kamen, drohte der Wirtschaft eine Kreditklemme. Damals waren es ganz maßgeblich die Volksbanken und Raiffeisenbanken, die zum Mittelstand hielten und die notwendige Liquidität sicherstellten. Sie sorgten für Stabilität, wo andere wankten. Sie hielten den Kreditkreislauf am Leben. Als 2011 nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima die Energiewende in Deutschland ausgerufen wurde, gründeten sich in Bayern in kurzer Zeit Dutzende Energiegenossenschaften. Sie etablierten die regionale Versorgung mit regenerativen Energien. Im letzten Jahr wurden 20 Genossenschaften im Freistaat gegründet – alle mit einem Zweck, nämlich durch privatwirtschaftliche Initiative eine gesellschaftliche oder wirtschaftliche Lücke zu schließen. Raiffeisen ist zwar vor 130 Jahren gestorben. Sein Lebenswerk aber ist aktuell und trifft den Nerv der Zeit.
 

Inwiefern?

Gros: Unsere Gesellschaft erlebt seit geraumer Zeit eine Renaissance des Regionalen. Produkte regionaler Herkunft haben Konjunktur, die Verbindung zur Heimat wird zum Wert. Die Heimat lebenswert zu erhalten und zu gestalten, treibt die Menschen an. Und sie wertschätzen es, wenn sich Unternehmen für ihre Heimat engagieren. Die Genossenschaften in Bayern tun das. Sie sind Heimatunternehmen. Die 244 Volksbanken und Raiffeisenbanken genauso wie die 1.016 ländlichen und gewerblichen Genossenschaften. Erstere geben 6,5 Millionen Kunden im Freistaat eine Finanzheimat. Letztere setzen zum Beispiel Waren und Dienstleistungen von mehr als 10 Milliarden Euro in der Heimat um. Genossenschaften stellen im Freistaat über 50.000 Arbeitsplätze und werden auch 2018 wohl wieder mehr als 450 Millionen Euro an Steuern zahlen.
 

Das freut den Finanzminister.

Gros: Davon gehe ich aus. Aber hoffentlich nicht nur ihn und nicht nur, weil die Genossenschaften seit vielen Jahren zu den konstanten und fleißigsten Steuerzahlern im Freistaat zählen…
 

… was meinen Sie damit?

Gros: Genossenschaften erfahren zunehmend mehr an politischer Wertschätzung. Der politische Ritterschlag erfolgte quasi mit dem Koalitionsvertrag der Berliner Regierungsparteien. Im Kapitel „Erfolgreiche Wirtschaft für den Wohlstand von morgen“ haben die Koalitionäre nämlich festgehalten, dass sie „Genossenschaften als nachhaltige und krisenfeste Unternehmensform in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen stärken“ wollen. Ein schönes politisches Geschenk zum Geburtstagsfest für Raiffeisen, an das man sich aber hoffentlich auch nach dem Jubiläumsjahr noch erinnert.
 

Welche Erwartung haben Sie konkret?

Gros: Wer Genossenschaften stärken will, der muss auch dafür sorgen, dass die politischen Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind. Wir sehen zum Beispiel mit großer Sorge die Diskussion um eine europäische Einlagensicherung. Sie hat zum Ziel, alle Banken Europas, die guten wie die schlechten, in eine Haftungsgemeinschaft zu zwingen. Angesichts von über 900 Milliarden Euro an faulen Krediten in den Bilanzen vor allem südeuropäischer Banken halte ich das für unverantwortlich. Warum sollen für die Risiken anderer künftig auch die Volksbanken und Raiffeisenbanken haften?  Mit Skepsis blicke ich zudem auf Bestrebungen, politisch in bewährte Liefer- und Abnahmestrukturen von Milchbauern und Molkereigenossenschaften einzugreifen. Dort, wo Wirtschaft funktioniert, sollten sich Politik und Staat raushalten. Und dort, wo Wirtschaft nicht funktioniert, sollten sie die Rahmenbedingungen so setzen, dass Anreize für private Initiative und selbstverantwortliches Handeln entstehen.
 

Ist das das Vermächtnis von Raiffeisen?

Gros: Raiffeisen war ja selbst lange Zeit Politiker. Sein Staatsverständnis war sehr pragmatisch. Ja, der Staat sollte „der Bevölkerung behilflich sein, jedoch nur insoweit, als dadurch das Selbstdenken und die Selbsttätigkeit nicht gehemmt werden.“ So hat er es einst formuliert. Ich finde, das ist ein Politik-, Staats- und Gesellschaftsverständnis, an das man aktuell wieder stärker anknüpfen sollte.
 

Herr Dr. Gros, vielen Dank für das Gespräch!

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