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September 2021, Unternehmergespräche in Baden-Baden. Im Palais Biron, einer exklusiven Villa in einer alten Parkanlage, spricht Isabel Schnabel, seit fast zwei Jahren Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB), über Geldpolitik und kommt auf ein Thema, das derzeit viele Menschen in Deutschland bewegt: die sprunghaft gestiegene Inflation und was darüber gemutmaßt wird. Das scheint die Ökonomin aber zu verärgern. „Da wird von Weimarer Verhältnissen gesprochen. Es werden Parallelen zu den 1970er Jahren gezogen, in denen die Inflation in Deutschland auf knapp acht Prozent stieg. Und es wird vor dem Mega-GAU gewarnt, wenn die Zinsen weiterhin niedrig bleiben“, sagt Schnabel. Später schreibt dazu ein Anonymus auf Twitter: „Geht die gute Frau selbst einkaufen oder tanken?“

In Sachen Teuerung sind die Deutschen noch immer sehr empfindlich. Das mag daran liegen, dass das Trauma der Hyperinflation von 1923 noch im kollektiven Bewusstsein steckt. Sicher aber ist, die Deutschen reagieren heftiger als die Bürger in anderen Euro-Staaten, wenn die Preisstabilität in Gefahr gerät. Vielleicht auch deshalb, weil zu Beginn des Weges zu Demokratie und Wohlstand stets eine stabile Währung stand. So war es in der Nachkriegszeit nach der Währungsreform und so war es im Sommer 1990, kurz vor der Wiedervereinigung, als die D-Mark Zahlungsmittel in der DDR wurde und die Ostdeutschen lernten, was für ein gutes Gefühl es sein kann, stabiles Geld zu besitzen, mit dem man sich überall etwas kaufen kann.

Titelfoto

Das Titelfoto zeigt eine leere Autobahn bei Düsseldorf am 25. November 1973. Wegen der anhaltenden Ölkrise wurde an diesem Tag erstmals ein sonntägliches Fahrverbot verhängt, weitere Sonntagsfahrverbote folgten am 2. und 9. Dezember 1973.

Wie aber war das eigentlich, vor knapp 100 Jahren, als ein Pfund Brot 36 Milliarden Mark kostete? Was war damals anders als in diesem Jahr, in dem der durchschnittliche Preis für einen Liter Super-Benzin von etwa 1,40 Euro im Januar auf im November etwa 1,70 Euro kletterte? Welche Parallelen gibt es zur Ölkrise 1973, als die Inflationsrate auf mehr als sieben Prozent hochschoss? Und was können wir aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen? 

Der Ärger von Isabel Schnabel jedenfalls ist nachvollziehbar. Der Preisschub im Jahr 2021 ist bei weitem nicht so dramatisch wie 1923 und auch nicht wie 1973. Dazu muss man sich nur in Erinnerung rufen, was damals eigentlich passiert ist.

Als eine Rasur zwei Eier kostete

Auf dem Höhepunkt der Hyperinflation, im Oktober 1923, betrug die monatliche Inflationsrate 30.000 Prozent. Die Preise wurden in Deutschland mehrmals täglich erhöht. Löhne und Gehälter wurden täglich ausgezahlt. Menschen fuhren sackkarrenweise Geldscheine durch die Straßen. In ländlichen Gebieten kehrte man zum Naturalaustausch zurück. Die Innung der Friseure zu Ochsenfurt am Main beschloss für eine Rasur zwei Eier und für einen Haarschnitt vier Eier zu verlangen. Gewinner waren vor allem Bauern, die mit Mercedes-Autos herumfuhren: Zu den Verlierern gehörte das Bürgertum: Ärzte, Professoren, Anwälte, Beamte, Journalisten, deren festverzinsliche Wertpapiere wertlos wurden.

Neben der Reichsdruckerei arbeiteten damals 132 private Firmen für den Notendruck, mehr als 30 Papierfabriken versorgten die Druckereien mit Papier. Die Milliarden an Geldnoten hatte die Notenbank drucken lassen, um all das zu finanzieren, was Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg belastete: die enormen Schulden, die milliardenschweren Reparationszahlungen an die Alliierten, den Widerstand gegen die Ruhrbesetzung, die Unterstützung für die Kriegsheimkehrer und Arbeitslosen, den Wiederaufbau der Wirtschaft. Die Geldentwertung aber hatte schon vorher schleichend begonnen, bevor sie sich zu einer galoppierenden Inflation entwickelte. Die Währungsreform sollte den Spuk beenden und die fünf guten Jahre der Weimarer Republik einläuten. Somit war die Hyperinflation eine historische Ausnahmesituation, die mit der Teuerung heute nur wenig gemein hat.

Ölkrise führt zu leeren Autobahnen

Ein anderer Krieg löste die Inflation aus, an welche sich diejenigen gut erinnern dürften, die jene vier autofreien Sonntage mit Geister-Autobahnen Ende 1973 erlebten. Vor 48 Jahren begann im Oktober 1973 die Ölkrise. Die arabischen Staaten drosselten ihre Ölproduktion, um den Westen zu bestrafen, weil er Israel im Krieg gegen sie unterstützte. Der Preis für das Fass Erdöl stieg von drei auf fünf US-Dollar und im folgenden Jahr auf zwölf US-Dollar. Zahlen, die heute lächerlich niedrig anmuten, aber damals Gift für die Weltwirtschaft waren und das Ende des Wirtschaftswunders in Deutschland bedeuteten – mit fatalen Folgen. Mitten in der Ölkrise und der bis dahin schwersten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik setzte Heinz Kluncker, der Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, dem Vorläufer von Verdi, mit einem Streik der Müllarbeiter Lohnerhöhungen von elf Prozent durch. Die Bundesbank erhöhte die Zinsen, was alles noch schlimmer machte. Die Krise mündete in eine Stagflation mit niedrigem Wachstum und höherer Arbeitslosigkeit.

Auch hier sind die Unterschiede zwischen damals und heute frappierend. Trotz einer Teuerungsrate, die gerade die 5-Prozent-Marke überschritten hat und damit den höchsten Wert seit dem Boom der Wiedervereinigung erreicht, ist die Situation 2021 nicht allzu dramatisch. Das liegt an den statistischen Basiseffekten: In der zweiten Hälfte 2020 hatte die Bundesregierung die Mehrwertsteuer gesenkt. Seit Anfang des Jahres sind wieder die alten Sätze von 19 und sieben Prozent gültig. Dadurch entstand ein Preissprung, zumindest optisch. So führt das Ifo-Institut die Hälfte der Inflation in diesem Jahr auf die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer zurück und auf die Tatsache, dass Energie in der ersten Corona-Krise billiger wurde und jetzt entsprechend teurer, weil sich die Wirtschaft vom Einbruch im vergangenen Jahr erholt. Auch die Lieferengpässe, ein weiterer Grund für die gestiegene Teuerung, dürften sich im kommenden Jahr wieder auflösen. Insofern wird ein Teil der Inflation derzeit nur vorübergehend sein.

Menschen empfinden Inflation subjektiv

Viele Bürgerinnen und Bürger hingegen empfinden die Situation oft als dramatischer, als sie tatsächlich ist. Inflation, das zeigt die jüngste Forschung, wird als subjektiv erlebt. Menschen sehen die Preise im Alltag vor allem im Supermarkt und an der Tankstelle. Ausgaben für Lebensmittel und Sprit schwanken stärker als die Inflationsrate gesamt. Höhere Preise für Gemüse oder Benzin bleiben aber in den Köpfen hängen und tragen dazu bei, die tatsächliche Inflationsentwicklung zu überschätzen, erst recht, wenn in den Medien die Teuerung ein Stoff für Debatten geworden ist. „Somit wird die Inflation als höher wahrgenommen, als sie es über die Zeit hinweg betrachtet ist“, schreibt Lena Dräger, Leiterin des Instituts für Geld und Internationale Finanzwirtschaft an der Leibniz-Universität Hannover. In Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass die Wohneigentumsquote im internationalen Vergleich niedrig ist und die meisten Bankkunden noch immer keine Aktienanlagen haben. „Jetzt sitzen die Leute auf großen Geldsparposten, die nichts bringen. Da ist natürlich die Altersvorsorge in Gefahr. Man wird nervös.“ Entsprechend groß sei die Angst vor einer Geldentwertung, sagte der frühere Wirtschaftsweise Peter Bofinger im „Handelsblatt“.

Die entscheidende Frage aber bleibt: Leitet der Covid-Inflationsschub eine neue Ära der Teuerung ein? Oder ist er nur eine kurze Episode?

So viel steht fest: In der Teuerungsrate spiegeln sich heute vor allem die schwankenden Rohstoff- und Lebensmittelpreise, das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage wider. Dass Notenbanken wie die EZB und die amerikanische Fed nach der Finanzkrise 2008/2009 Billionen in den Wirtschaftskreislauf pumpten, lässt sich allein als Grund für steigende Preise nicht heranführen. Sonst wäre die Inflationsrate noch vor kurzer Zeit nicht zeitweise negativ gewesen, obwohl die Zentralbanken wie verrückt Geld druckten. Kurzfristig kann man also entspannt bleiben: Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen im nächsten Jahr wieder mit einer deutlich niedrigeren Inflation, 2,5 Prozent könnten es vielleicht werden. Langfristig aber sprechen einige Signale zumindest für eine trabende Inflation in Deutschland, möglicherweise mit Preiserhöhungen im mittleren einstelligen Bereich. Dafür gibt es einige gute Gründe:

  1. Die Bevölkerung schrumpft und altert. Es gibt weniger Arbeitskräfte. Das ist Futter für eine Lohn-Preis-Spirale wie in den 1970er-Jahren.
  2. Deutschland bekommt noch mehr Rentner und Rentnerinnen. Die Ruheständler neigen aber zunehmend dazu, ihre Ersparnisse zumindest teilweise auszugeben und sich etwas zu leisten. Mit einer stärkeren Nachfrage lassen sich aber leichter höhere Preise durchsetzen.
  3. Dürren und Starkregen aufgrund des Klimawandels verknappen das Angebot an Nahrungsmitteln. Das treibt ebenfalls die Preise in die Höhe.
  4. Es sind gigantische Ausgaben nötig, um Deutschland klimaneutral zu machen. Unternehmen müssen sowohl für ihre CO2-Emissionen zahlen als auch für den Umbau hin zu einer klimafreundlicheren Produktion. Zugleich lässt die Digitalisierung die Nachfrage nach Rohstoffen und Energie steigen.
  5. Die Globalisierung verliert als Dämpfer für die Produktionspreise an Gewicht. In den Schwellenländern steigen die Löhne. Unternehmen können nicht mehr so leicht damit drohen, Produktion ins günstigere Ausland zu verlagern wie in den vergangenen 30 Jahren.
  6. Die Welt ist verschuldet wie nie zuvor. Hohe Staatsschulden, das lehrt der Blick in die Geschichte, gehen aber häufig mit steigender Inflation einher.

Wie reagieren EZB und Gewerkschaften?

Viel wird von der Antwort auf zwei Fragen abhängen: Hält die EZB das Geld weiter billig, trotz steigender Preise, weil einige südeuropäische Euro-Mitglieder sonst ihre Haushalte nicht finanzieren können? Wenn ja, könnte das die Inflation weiter anheizen. Wie reagieren die Gewerkschaften? Noch bewegen sich die Forderungen in einem normalen Tarifrahmen, wenn Verdi etwa fünf Prozent für zwölf Monate verlangt. Hinzu kommt: Anders als in den 1970er Jahren geht es den Arbeitnehmern nicht mehr nur um Geld. Die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze ist ihnen genauso wichtig und – gerade den Jüngeren – ein Job mit einer guten Work-Life-Balance. Das spricht eher gegen eine Lohn-Preis-Spirale.

Nun sind Prognosen „schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“, das sagte schon der amerikanische Schriftsteller Mark Twain. Und bekanntlich kommt es oft anders, als man denkt. Aber sollten einige der führenden Ökonomen Deutschlands diesmal recht behalten, könnte 2021 einmal zu dem Jahr in den Geschichtsbüchern werden, in dem die schon fast totgesagte Inflation nicht nur nach Deutschland zurückgekehrt ist.


Thomas Öchsner ist seit 1999 in verschiedenen Positionen für die Süddeutsche Zeitung" tätig, unter anderem als Leiter des Finanzteams der Wirtschaftsredaktion. Seit Juni 2021 arbeitete er als freier Autor für die SZ" und ist verantwortlich für das SZ-Magazin GELD".

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