Diese Website verwendet Cookies. Wenn Sie unsere Seiten nutzen, erklären Sie sich hiermit einverstanden. Weitere Informationen

In den ersten Wochen der Corona-Pandemie war eine der größten Ängste, dass es nicht genügend freie Betten auf den Intensivstationen geben würde. Daher müssen die Krankenhäuser seit Mitte März 2020 melden, wie viele Patienten mit Covid19 sich in intensivmedizinischer Behandlung befinden. Auch heute noch kann man auf dem „Infektionsradar“ des Gesundheitsministeriums täglich verfolgen, wie viele Intensivbetten von Corona-Patienten belegt sind. Am 12. März 2024 waren es 0,6 Prozent in Bayern, Tendenz sinkend. Für die Krankenhäuser ist es ein erheblicher Aufwand, täglich die Fallzahlen zu melden, erzählt Jens Leveringhaus, Vorstandsvorsitzender der P.E.G. Einkaufs- und Betriebsgenossenschaft eG. „Das Beispiel zeigt anschaulich den Bürokratie-Wahnsinn in Deutschland. Regeln, die einmal eingeführt werden, werden nicht wieder gestrichen, unabhängig davon, ob die Informationen benötigt werden oder nicht.“

Die Genossenschaft mit Sitz in München betreut rund 3.500 Einrichtungen im Gesundheitsbereich wie Rehakliniken, Akutkrankenhäuser sowie Senioren- und Pflegeheime. Leveringhaus ist nah dran an den Mitgliedern und weiß, welche Themen den Medizinern auf den Nägeln brennen. Neben der überbordenden Bürokratie sind das vor allem eine Unterfinanzierung sowie steigende Lohn- oder Materialkosten. Die Stimmung bei den Krankenhäusern sei im Keller, erzählt der Vorstandschef der P.E.G. Fast alle Einrichtungen arbeiten derzeit defizitär.

Dicke Luft bei den Haus- und Fachärzten

Auch bei den 123 Haus- und Fachärzten, die sich in Nürnberg zum Gesundheitsnetz Qualität und Effizienz (QuE) eG zusammengeschlossen haben, herrscht dicke Luft. „Wir haben die Belastungsgrenze eigentlich schon überschritten“, sagt der Vorstandsvorsitzende Andreas Lipécz. Derzeit sei das Infektionsgeschehen hoch, die Praxen entsprechend voll. Dazu kämen strukturelle Probleme wie Sinnlos-Regeln, eine nicht funktionierende Digitalisierung, gestiegene Kosten bei gleichbleibenden Einnahmen sowie der Fachkräfte-Mangel. Außerdem gebe es zu wenig Nachwuchs.

Viele Mitglieder der Genossenschaft haben deshalb im vergangenen Jahr gestreikt. Im Oktober haben sie für einen Tag ihre Praxen geschlossen und in der Nürnberger Fußgängerzone protestiert. Ziel war es, die Passanten auf die Situation hinzuweisen. Damit waren sie nicht allein: Seit einigen Monaten demonstrieren regelmäßig viele Haus- und Fachärzte in ganz Deutschland. „In der Gesundheitspolitik muss endlich umgesteuert werden“, fordert Lipécz.

Kliniken funken S.O.S.

Die zwei Beispiele zeigen exemplarisch die aktuelle Situation im deutschen Gesundheitswesen. Im Wochentakt gibt es Notrufe aus den Kliniken und Praxen. Bei den meisten Einrichtungen reicht das Geld nicht aus – und das, obwohl sich die Kosten für Gesundheitsausgaben in der Bundesrepublik zwischen 2000 und 2021 von 214 Milliarden Euro auf 474 Milliarden Euro mehr als verdoppelt haben. Dazu kommen Entwicklungen wie der Fachkräftemangel und der demographische Wandel.

Es braucht umfassende Reformen, um das Gesundheitssystem zukunftsfest aufzustellen. Darüber sind sich alle Akteure einig. Gleichzeitig ist die Gesundheitspolitik ein Minenfeld. Denn einerseits lassen sich die Interessen von Politik, Ärzteverbänden und Krankenkassen selten in Einklang bringen. Andererseits ist das System extrem komplex ausgestaltet.

Krankenhausreform geplant

Ein gutes Beispiel dafür, wie schwer es ist, etwas zu ändern, ist die Krankenhausreform. Nach den Plänen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach soll die Finanzierung, die Organisation und das Leistungsspektrum der Krankenhäuser in Deutschland grundlegend reformiert werden. Zwei Kernelemente: Das aktuelle System der Fallpauschalen – Kliniken bekommen für eine bestimmte Behandlung eine Pauschale in festgelegter Höhe – soll überarbeitet werden. Außerdem ist geplant, die Krankenhäuser stärker zu differenzieren. Verschiedene „Level“ sollen deutlich machen, ob eine Klinik vor allem die medizinische Grundversorgung übernimmt, oder auch komplizierte Behandlungen durchführt.

Eigentlich soll die Reform dieses Jahr in Kraft treten. Doch wann sie tatsächlich kommt und wie sie konkret ausgestaltet wird, steht in den Sternen. Bund und Länder sind sich uneins. Für viele Kliniken werden die Veränderungen zu spät kommen. 2024 könnte laut Brancheninsidern ein Rekordinsolvenzjahr bei Kliniken werden. Auch Leveringhaus mahnt Schnelligkeit an. „Der Grundgedanke der Krankenhausreform, die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern, ist absolut sinnvoll. In dem bisherigen Prozess sind jedoch viele Punkte zerredet worden und es wird weitere Kompromisse geben. Am Ende kommt dann eine Schmalspurlösung, mit der niemand zufrieden ist. Und als Konsequenz gehen immer mehr Kliniken insolvent. Das kann doch niemand wollen. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn es in absehbarer Zeit eine vernünftige Lösung gibt, mit der alle Seiten leben können“, betont er.

Wie Genossenschaften ihre Mitglieder unterstützen

Genossenschaften wie die P.E.G. eG unterstützen ihre Mitglieder in dieser schwierigen Zeit bestmöglich. Leveringhaus verweist erstens auf das Leistungsportfolio der Genossenschaft. Durch den gemeinsamen Einkauf kann das Unternehmen beispielsweise Preisvorteile für die Kliniken erzielen. Zweitens fungiert die eG als Kommunikationsplattform. Dort können sich die Mitglieder austauschen. Drittens bietet die P.E.G. zunehmend Beratungsleistungen an. Beispielsweise begleitet sie Kliniken verstärkt auf dem Weg zu Klimaneutralität und Nachhaltigkeit.

Generell ist das Thema Nachhaltigkeit ein Feld, indem sich der Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft mehr staatliche Unterstützung wünscht. Schließlich müsse der Gesundheitsbereich mit den Folgen umgehen, wenn die Menschen unter Hitze oder neuen Krankheitsbildern leiden. „Die Politik arbeitet viel mit dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Im Augenblick ist zu viel Peitsche. Das bedeutet: Es gibt Pflichten wie CSRD-Berichte, die perspektivisch alle Kliniken erfüllen müssen. Gleichzeitig gibt es zu wenig Zuckerbrot, also zu wenig Programme oder Fördermöglichkeiten, um den Kliniken den Weg zu mehr Nachhaltigkeit schmackhaft zu machen. Das wäre absolut wünschenswert“, betont er.

Haus- und Fachärzte fordern Reformen ein

Die Krankenhausreform ist nur ein Beispiel für aktuelle Bemühungen, den Gesundheitssektor zu reformieren. Bei den Haus- und Fachärzten haben die Demonstrationen erste Wirkung gezeigt. Anfang Januar hat sich Karl Lauterbach mit Ärztevertretern getroffen und einige Neuregelungen vorgeschlagen. „Zuvor hat er unseren Berufsstand seit seinem Dienstantritt komplett ignoriert. Insofern ist das schon einmal ein Erfolg“, berichtet Lipécz. Mit den Ergebnissen ist er jedoch nur mäßig zufrieden. Bei vielen Punkten käme es nun auf die konkrete Ausgestaltung an. „Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Vorschläge unvollständig und sehr vage gehalten sind. Darauf lässt sich nicht wirklich aufbauen“, betont er.

Hoffnungen hegt der Vorstand der QuE eG auf die Aussage Lauterbachs, dass die Kliniken „total überbürokratisiert“ seien. Andreas Lipécz stört sich insbesondere an den verschärften Hygienevorschriften. Immer mehr medizinische Geräte dürfen nur einmal verwendet werden. Dadurch entsteht viel Müll. Dem Ansinnen der Genossenschaft, möglichst nachhaltig zu handeln, steht das entgegen. „Die Hygienevorschriften sind übertrieben, dazu kommt eine aufwändige Dokumentation. Das frustriert die Mitarbeiter und bringt den Patienten keine Vorteile“, betont Lipécz.

Solide Finanzierung der Praxen angemahnt

Der Mediziner hofft zudem, dass die Gebührenordnung für Ärzte überarbeitet wird. Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 1982, 1996 wurde sie teilweise novelliert. Moderne Leistungen können mit der „GÖA“, so die Abkürzung in Fachkreisen, nur unzureichend berücksichtigt werden. Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat einer Überarbeitung der GÖA jedoch mehrfach eine Absage erteilt. Lipécz ist damit, wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen, nicht einverstanden: „Nicht zuletzt durch die Inflation gibt es eine schleichende Erosion der Praxiseinnahmen, die Sätze des EBM (Vergütungssystem der vertragsärztlichen Versorgung, Anm. d. Red.) für die Kassenpatienten wurden nicht ausreichend erhöht. So können wir die gestiegenen Kosten für beispielsweise Miete und Strom nicht ausgleichen. Wir brauchend dringend eine solide Finanzierung.“ Lipécz macht die fehlenden Einnahmen auch verantwortlich dafür, dass die Medizinischen Fachangestellten bei Haus- und Fachärzten in der Regel weniger Geld verdienen können als in Krankenhäusern. Man würde gerne mehr Geld zahlen, sei dazu aber nicht in der Lage. Letztlich verliere man so Personal an die Kliniken und es werde dadurch schwierig, ausreichend Mitarbeiter zu finden.

Generell bereitet Lipécz das Thema Nachwuchs Sorgen. „Wir müssen dringend die Zahl der Medizinstudienplätze erhöhen, damit auch in Zukunft ausreichend Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stehen“, betont er. Derzeit gibt es rund 10.000 Studienplätze. Doch um diese Zahl zu erhöhen, bräuchte es hohe finanzielle Anstrengungen. Ein Studierender kostet das jeweilige Bundesland pro Jahr etwa 30.000 Euro. Die zusätzlichen Kosten für mehr Studienplätze möchten die Länder nicht übernehmen. Wie auf diese Weise der bereits jetzt herrschende Ärztemangel beseitigt werden soll, ist jedoch unklar. Vor allem, weil auch unter Medizinern die Teilzeitquote stark gestiegen ist. „Es wäre schön, wenn die Realität endlich anerkannt wird, dass es deutlich zu wenig Studienplätze gibt. Und in einem zweiten Schritt braucht es dann natürlich entsprechende Maßnahmen. Doch nicht alle Politiker und Funktionäre bei den Krankenkassen scheinen die Situation zu verstehen oder wahrhaben zu wollen“, sagt Lipécz. Immerhin: Ende März hat Lauterbach Pläne vorgelegt, nach denen die Zahl der Medizinstudienplätze um 5.000 Stück steigen soll.

Ehrliche Bestandsaufnahme und Strukturreformen nötig

Neben den jeweiligen Reformen für die einzelnen Bereiche wird die Politik über kurz oder lang nicht herumkommen, das komplette Gesundheitssystem auf die neuen Gegebenheiten anzupassen. Jens Leveringhaus hat vor allem vier Faktoren ausgemacht, die die Branche lähmen. Erstens der Föderalismus. Das Gegeneinander von Bund auf der einen Seite und Ländern auf der anderen Seite sei kontraproduktiv und ersticke einen Großteil der Reform-Maßnahmen bereits im Keim. Zweitens die zahlreichen unterschiedlichen Interessensgruppen. Da alle Akteure auf ihren Maximalforderungen beharren, seien Einigungen nur schwer zu erzielen. Drittens die Finanzierung. Unabhängig von der Frage, ob das System ausreichend finanziert sei, gebe es hohe Ineffizienzen. Zu viel Geld versickere in Bürokratie. Und viertens sollte es eine gesellschaftliche Debatte darüber geben, wie ein modernes Gesundheitswesen ausgestaltet sein müsse, welche Leistungen kostenfrei zur Verfügung stehen können und wo eine zusätzliche Bezahlung notwendig sei. „Langfristig ist das System nur tragfähig, wenn wir eine ehrliche Bestandsaufnahme machen und in der Folge die notwendigen Strukturreformen einleiten“, betont Leveringhaus.

Artikel lesen
Topthema