Diese Website verwendet Cookies. Wenn Sie unsere Seiten nutzen, erklären Sie sich hiermit einverstanden. Weitere Informationen

    Anzeige

Anzeige

Fragt man Joachim Wiesböck, wie Streuobstwiesen das Alpenvorland südlich von Rosenheim prägen, dann ruft er den Kartendienst Google Maps auf. In der Satelliten-Ansicht fliegt er über die Landschaft. „Schauen Sie vor allem auf die Ränder der Orte und achten Sie auf Ansammlungen von locker verstreuten, dunkelgrünen Punkten. Das sind Obstbäume auf Streuobstwiesen. Sie werden nur wenige Siedlungen finden, bei denen es solche Flächen nicht gibt“, sagt Wiesböck.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war der Streuobstanbau für viele Menschen in der Region überlebenswichtig. Sie lagerten die heimischen Äpfel, Birnen, Zwetschgen und andere Früchte als Tafelobst ein, um im Winter an Vitamine zu kommen, kochten sie als Marmelade ein oder brannten daraus Schnaps. Gleichzeitig stellte der Obstverkauf eine gute Einnahmequelle dar. Doch Ende der 1950er Jahre änderten sich die Vermarktungswege und das Verbraucherverhalten, vor allem durch Supermärkte mit Selbstbedienung. Das Obst kam nun aus Plantagen vom Bodensee oder aus Südtirol. „Dadurch wurde der Absatz für die heimischen Landwirte zunehmend schwieriger und die kleinen Keltereien sowie Brennereien konnten die Menge an Früchten nicht aufnehmen“, sagt Wiesböck.

Als Konsequenz gründeten 44 regionale Obstbauern 1958 die ORO Obstverwertung eG, deren Vorstandsvorsitzender Wiesböck ist. Die Genossenschaft mit Sitz in Rohrdorf bei Rosenheim verarbeitet vor allem Äpfel und Birnen von Streuobstwiesen zu Fruchtsäften und Mischgetränken. Obst anliefern können aber nicht nur die aktuell 107 Mitglieder, sondern alle, die ein oder mehrere Obstbäume im Garten stehen haben. Rund ein Drittel des Absatzes läuft über die Lohnverarbeitung: Dazu bringen die Menschen ihr Obst zur ORO, lassen dieses gegen eine Gebühr pressen und erhalten den Fruchtsaft in Flaschen zurück. Die übrige Menge verkauft die eG sowohl direkt am Unternehmenssitz in Rohrdorf als auch über den Getränke- und Fachhandel im Umkreis von rund 50 Kilometern. Zudem beliefert sie die Gastronomie. Verkaufsschlager sind der klare und der naturtrübe Apfelsaft, immer beliebter werden Schorlen.

Konstante Pflege notwendig

Dank der Genossenschaft ist es für die Menschen in der Region attraktiv, Streuobstwiesen zu unterhalten. Die Bewirtschaftung ist zwar nicht so arbeitsintensiv wie bei Obstplantagen, doch mit ein paar Handgriffen ist es auch nicht getan. „Man muss auf jeden Fall die Wiese zwei- bis dreimal pro Jahr mähen, die Bäume schneiden und den Wurzelbereich im Frühling und Sommer von jeglichem Bewuchs freihalten. Da kommen schnell viele Stunden zusammen“, sagt Wiesböck. Zudem sind Streuobstwiesen eine Daueraufgabe. Die Bäume werden durchschnittlich 60 bis 90 Jahre alt, tragen aber erst nach zehn bis 15 Jahren erstmals Früchte. „Der Bestand muss kontinuierlich gepflegt und verjüngt werden. Wenn eine Generation das Interesse verliert, verkümmern die bestehenden Bäume und es dauert für die nächste Generation Jahrzehnte, bis sie wieder einen ordentlichen Ertrag erzielt“, betont Wiesböck.

Kampf um die Streuobstwiese

Streuobstwiesen sind wertvolle Kulturlandschaften: Sie liefern nicht nur gesundes und regionales Obst, sondern bieten zusätzlich Lebensraum für bis zu 5.000 Tier- und Pflanzenarten. Kein Wunder also, dass es seit längerer Zeit gesellschaftlicher und politischer Konsens ist, das Streuobstwiesen besonders schützenswert sind. Über die richtige Art und Weise gibt es jedoch erbitterten Streit. Der Grund: Die Impulsgeber des 2019 von den bayerischen Bürgern angenommenen Volksbegehrens Artenvielfalt möchten Streuobstwiesen ab einer Fläche von 2.500 Quadratmetern als gesetzlich geschützte Biotope ausweisen. Viele Obstbäuerinnen und Obstbauern halten das für keine gute Idee: Sie befürchten, dass sie ihre Bestände nicht mehr richtig pflegen dürfen und die Bäume Schädlingen wie Wühlmäusen oder Blattläusen zum Opfer fallen. Außerdem gehen sie davon aus, dass ihr Grundbesitz massiv an Wert verlieren wird. Nach vielen Diskussionen hat Ministerpräsident Markus Söder am 18. Oktober einen „Streuobstpakt“ verkündet. Demnach fließen in den kommenden 15 Jahren mehrere 100 Millionen Euro in die Streuobstwiesen. Ziel ist es, die Bestände auf sechs Millionen Streuobstbäume auszuweiten.

Wie ein idealer Streuobstbaum aussieht, zeigt der Vorstandsvorsitzende der ORO in einem Nachbarort von Rohrdorf. Sein Ziel ist ein Apfelbaum auf einer Wiese, mehrere Schritte von der Straße entfernt. Das Gras ist knöchelhoch und nass, in der Nacht hat es geregnet. Der Baum ist rund fünf Meter hoch, die Leitäste wachsen schräg nach oben. Die Krone ist nicht zu dicht bewachsen und damit lichtdurchlässig für die darunter wachsenden Früchte. Noch trägt der Baum hunderte Äpfel, doch einige sind bereits auf den Boden gefallen. „Der Rheinische Bohnapfel wird Anfang November geerntet. Er eignet sich ideal für die Herstellung von Fruchtsäften“, erklärt Wiesböck. Insgesamt wachsen in der Region rund 300 verschiedene Apfelsorten. Der Grund: Jede Sorte hat einen unterschiedlichen Reifezeitpunkt. Auf diese Weise müssen die Landwirtinnen und Landwirte die Äpfel nicht binnen weniger Tage ernten, sondern haben rund zehn Wochen Zeit dafür. Bei den Birnen ist es ähnlich, jedoch können einige Sorten schon im Juli und August gepflückt werden.

Wenn die Äpfel reif sind, fallen sie auf den Boden, oder die Besitzer helfen mit einem Baumschüttler nach. Anschließend bringen sie das Obst zur ORO nach Rohrdorf, wo es die Genossenschaft in Silos lagert. Die Produktion läuft wie folgt ab: Von den Silos gelangen Äpfel und Birnen auf ein Förderband, wo sie zunächst gewaschen und von einer Fachkraft handverlesen werden. Anschließend wird das Obst gemahlen und in eine sogenannte Dekanter-Presse geleitet. In dieser wird die Maische separiert und Rückstände werden durch eine Förderschnecke ausgebracht. „Der Prozess hat im Vergleich zu herkömmlichen mechanischen Pressverfahren zwei zentrale Vorteile: Erstens gelangen mehr sehr feine Fruchtfleisch-Anteile in den Saft. Zweitens kommt die Flüssigkeit während der kompletten Herstellung kaum mit Luft in Berührung. Das schont die Inhaltsstoffe und verhindert Oxidation. Als Resultat schmeckt der Saft milder und angenehmer“, betont Wiesböck. Nach dem Pressen gelangt der Saft in Edelstahl-Tanks mit einem Fassungsvolumen von bis zu 40.000 Litern. Das gesamte Tanklager fasst bis zu 2,2 Millionen Liter Säfte. Diese lagern dort typischerweise mehrere Monate, bevor sie die ORO in Flaschen abfüllt.

In den vergangenen Jahren hat die ORO ihr Angebot erheblich ausgebaut. Mittlerweile gibt es rund 35 verschiedene Säfte, Schorlen, Nektare und Fruchtweine. Im Sortiment finden sich einerseits Klassiker wie der Apfel- oder der Birnensaft. Dazu kommen regionaltypische Getränke wie Johannisbeerenschorle oder Rhabarber-Nektar. Aber auch Exoten wie Ananassaft oder einen Maracuja-Fruchtnektar stellt die ORO her. „Wir laufen nicht jedem Trend hinterher. Gleichzeitig benötigen wir eine breite Produktpalette, um etwa den Anforderungen der Gastronomie gerecht zu werden. Gastronomen möchten möglichst alle Säfte von einem Lieferanten beziehen“, betont Wiesböck.

Sammelzertifizierungen für Bio-Obst

Zudem ist die Genossenschaft in den Bio-Markt eingestiegen. Eigentlich weise ein Großteil des vorhandenen Streuobsts Bio-Qualität auf, betont Wiesböck. Schließlich verwenden die Eigentümerinnen und Eigentümer zumeist weder mineralischen Dünger, noch spritzen sie das Obst. Auch der Schnitt erfolgt bei ausgewachsenen Bäumen nur alle fünf bis zehn Jahre. Das Problem: Die Kosten für eine Bio-Zertifizierung rechnen sich für die Betriebe zumeist nicht. Deshalb hat die ORO die Bio-Streuobst-Initiative aufgelegt. In diesem Rahmen ermöglicht sie sogenannte Sammelzertifizierungen. Das bedeutet, dass die Landwirte nur ihre Streuobstwiesen nach Bio-Kriterien bewirtschaften müssen. Den Rest ihres Betriebs können sie weiterhin konventionell führen. Seit Sommer hat die Genossenschaft drei Bio-Produkte auf dem Markt: Bio-Apfelsaft naturtrüb, Bio-Birnensaft und Bio-Apfelschorle naturtrüb. Wiesböck: „Wir sehen Potenzial in diesem Segment, vor allem, da unsere Bio-Ware nicht von irgendwo herkommt, sondern aus Oberbayern. Wir hoffen, uns damit am Markt gut positionieren zu können.“

Generell sieht der Vorstandschef die Genossenschaft gut für das Thema Nachhaltigkeit gerüstet. Beispielsweise sorgt das Vertriebssystem für kurze Transportwege: Die eG fährt die Flaschen nicht quer durch Deutschland oder exportiert sie ins Ausland, sondern beliefert ausschließlich regionale Fachhändler. Außerdem verwendet die ORO seit Jahrzehnten ausschließlich Glas-Mehrwegflaschen und vermeidet dadurch Plastik. „Wir sind eine regionale Kelterei, die bewusst mit den Ressourcen umgeht und konsequent nachhaltig handelt“, betont Wiesböck.

Der Vorstandsvorsitzende hofft, dass es für die Menschen in der Region weiterhin attraktiv bleibt, Streuobstwiesen zu betreiben. Sein wichtigstes Ziel für die Zukunft ist es, weiterhin genug Rohware aus der Umgebung zu erhalten. Nur so kann sich die Genossenschaft als regionale Kelterei im Premium-Segment positionieren. Um ihre Differenzierungsmerkmale bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern herauszustellen, intensiviert die ORO ihre Öffentlichkeitsarbeit. Noch in diesem Jahr soll beispielsweise eine zeitgemäße Webseite online gehen.

Artikel lesen
Praxis