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„Post 9/11“ oder „post Lehman“ – die wirklich schweren Krisen erkennt man daran, dass sie auch lange Zeit später noch sehr präsent sind, dass es ein „Davor“ und ein „Danach“ gibt. Wird das bei der Corona-Krise auch so sein? Aktuell ist das schnell gesagt, aber wird man in zehn oder 20 Jahren rückwirkend feststellen, dass auch die Welt „post Corona“ eine andere wurde? Tatsächlich spricht viel dafür. Union Investment hat in einem Thesenpapier zwölf Annahmen zu den möglichen Folgen aufgestellt (PDF). Für „Profil“ haben die Autoren die zentralen Punkte zusammengefasst.

These 1: Die Monetisierung von Staatsschulden gewinnt an Akzeptanz. Ein Problem ist das vorerst nicht, vielmehr eine Notwendigkeit.

Schaut man sich die aktuellen geldpolitischen Programme im Zuge der Corona-Pandemie an, ist eines relativ offensichtlich: Die sprunghaft gestiegene Nachfrage nach Liquidität bei Unternehmen und auch privaten Haushalten lässt derzeit vielerorts keine (praktikable) Alternative zu, als die schuldenfinanzierten staatlichen Hilfsmaßnahmen mit einer Kaufgarantie durch die Notenbanken zu versehen. Ein Inflationsschub ist durch die Monetisierung kurzfristig nicht zu erwarten.

These 2: „Low for much longer“ – das Niedrig-/Negativzinsumfeld ist nun erst recht zementiert.

Die volkswirtschaftliche reale Wertschöpfung wird tief ins Minus rutschen. Was das für die Leitzinsen bedeutet, ist relativ klar: Sie bleiben so tief es nur geht. In der Eurozone war die Zinswende ohnehin mehr oder minder ausgefallen – Stichwort „Japanisierung“. Die Corona-Krise zementiert dies zusätzlich.

These 3: Die Spielräume für staatliche Investitionen (auch im Kampf gegen den Klimawandel) werden „eigentlich“ deutlich enger sein. Solide Staaten könnten trotzdem Gas geben – wann, wenn nicht jetzt.

Höhere Schulden bei niedrigerer Wirtschaftsleistung, höhere Zins- und Tilgungslasten bei gleichzeitig niedrigeren Steuereinnahmen – es ist klar, was das bedeutet: Es ist weniger Geld da für wichtige Investitionen, sei es für die viel thematisierten Bereiche Infrastruktur und Bildung, sei es für den Kampf gegen den Klimawandel. Andererseits: Besondere Zeiten erhöhen die Akzeptanz für besondere Maßnahmen. Beispiel Deutschland: Bis vor Kurzem wurde hierzulande noch leidenschaftlich die „Schwarze Null“ verteidigt. Die ist bis auf Weiteres nunmehr Vergangenheit. Die Schwere der Rezession wird zusätzliche schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme wohl unumgänglich machen.

These 4: Der Druck auf die EU zu mehr Integration und Solidarität wird nochmals steigen. Die Voraussetzungen für Fortschritte sind gemischt.

Inzwischen tut zwar auch die europäische Politik sehr viel, um Wirtschaft, Arbeitsplätze und Finanzmärkte zu schützen und zu stützen, allen voran erneut die Europäische Zentralbank (EZB). So besehen schreitet die Integration voran. Gleichzeitig erhöht sie durch lange Diskussionen über die Solidarität innerhalb Europas die Kosten dieser Anstrengungen über das notwendige Maß hinaus. Das muss sich ändern.

These 5: Die Corona-Krise gibt den Briten einen Eindruck, wie ein harter Brexit wirken könnte. Vielleicht lässt sie das moderater werden.

Die Corona-Krise ist eine Art Live-Experiment für einen harten Brexit. Das Vereinigte Königreich probiert gerade unfreiwillig aus, wie die Dinge laufen, wenn viele ausländische Arbeitskräfte fehlen, der Handel stark behindert ist und die Produktion heimischer Unternehmen ebenso. Zu welchen Schlüssen sie das in Hinblick auf die Verhandlungen mit der EU über ein künftiges Handelsabkommen bringen wird, ist kaum zu prognostizieren. Die Chancen für eine einvernehmliche Lösung dürften aber etwas besser stehen.

These 6: Es wird auch Insolvenzen profitabler Unternehmen geben. Die Herausforderung: das sinkende Produktionspotenzial und die Nachfragesteuerung so auszubalancieren, dass Inflation oder Deflation vermieden werden.

Das Ausmaß der Insolvenzen ist aktuell schwer abzuschätzen, da es insbesondere von der Länge des Shutdowns abhängt. In jedem Fall wird das volkswirtschaftliche Produktionspotenzial schrumpfen. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass sich unsere Wirtschaftsstruktur in der Erholung insgesamt verändern wird. Auf der Angebotsseite wird es Fusionen und Übernahmen geben, auf der Nachfrageseite verändertes Konsumentenverhalten. Deshalb müssen Geld- und Fiskalpolitik sehr auf einen möglichen „Mismatch“ – also eine fehlende Übereinstimmung – von aggregierter Nachfrage und aggregiertem Angebot achten. Sonst kann es inflationäre oder deflationäre Entwicklungen geben.

These 7: Nach vielen Krisen werden die Starken noch stärker. Bei Corona gilt das vor allem für die Digitalunternehmen.

Ausgerechnet die Firmen, die schon vor der Krise extrem stark waren, haben nicht nur die wenigsten Probleme, sondern profitieren zum Teil sogar noch. Am offensichtlichsten ist das natürlich bei Amazon – man ist versucht zu sagen, die Corona-Krise sei wie gemacht für den Onlinehandels-Riesen. Andere Firmen des Digital- beziehungsweise IT-Bereichs wie Apple gehören vielleicht nicht direkt zu den Profiteuren, aber: Wenn, dann haben sie Probleme „auf hohem Niveau“ – und vor allem sind diese weit davon entfernt existenziell zu wirken. Das liegt unter anderem daran, dass die „Big Techs“ durch das starke Wachstum der vergangenen Jahre hohe Cash-Reserven aufgebaut haben. Mit gut gefüllter „Kriegskasse“ werden sie nach der Krise ihre Marktanteile weiter ausbauen können.

These 8: Krisen legen Schwächen schonungslos offen. Sie setzen aber gleichzeitig auch besondere Energie für Innovationen frei.

Ein Beispiel ist die weltweit enorm an Fahrt gewinnende Diskussion um Gesundheitssysteme und deren Finanzierung. Während Deutschland, trotz massiver Einsparungen in der jüngeren Vergangenheit, noch vergleichsweise gut dasteht, ist die Situation etwa in Großbritannien oder den USA deutlich angespannter. Fest steht: Gerade jene Länder, deren Gesundheitssystem durch Corona am Rande des Zusammenbruchs steht, werden in der Zukunft nachbessern – alleine schon, weil der politische Druck zunimmt. Profitieren dürften Branchen, die schon jetzt durch große Innovationssprünge in der Krise auf sich aufmerksam machen: die Pharma- und Biotechindustrie sowie die Medizintechnik.

These 9: Krisen zwingen zur Improvisation. Und vieles, was zunächst Improvisation war, wird dann auch als dauerhaft wertstiftend empfunden.

Das augenfälligste Beispiel ist wohl der sprunghafte, weil „erzwungene“ Anstieg der Home-Office-Nutzung. Auch Schüler und Studierende müssen seit Kurzem weltweit improvisieren. Die Schließung ihrer Bildungseinrichtungen führt zu einer wahren Explosion des Angebots an „Online-Education“. Für Regionen mit schwacher Bildungsinfrastruktur könnten die nun hervorgebrachten Innovationen bei Technik und Inhalt für eine deutliche Verbesserung der Bedingungen sorgen. Dasselbe gilt für den Bereich der Telemedizin. Durch einen Ausbau der Infrastruktur könnten auch hier insbesondere jene ländlichen Regionen profitieren, die zuvor unterversorgt waren.

These 10: Die mit Krisen häufig verbundene Zerstörung von Werten setzt im „Wiederaufbau“ Innovationspotenziale frei und beschleunigt den Einsatz bereits vorhandener Technologien.

Die Krise eröffnet besondere Chancen für Innovationen. Diese aufzuspüren und zu ergreifen hat nicht nur eine hohe Relevanz für Gesellschaft und Wirtschaft im Allgemeinen, sondern auch für den Kapitalmarkt im Besonderen. Denn Anleger profitieren von der Selektion und Finanzierung der besten Improvisations- und Innovationsideen in jedem Fall.

These 11: Die Corona-Krise wird den Konflikt zwischen den USA und China und die Tendenz zu einer neuen Blockbildung weiter verschärfen.

Die Corona-Krise liefert jeder Regierung, die grundsätzlich einen wirtschaftsnationalistischen Kurs verfolgt, zusätzliche Argumente. Die US-Regierung dürfte diese Option ziehen, denn: In den USA gibt es auch jenseits der populistischen Regierung und ihrer Unterstützer einen breiten Konsens, dass der technologische Vormarsch Chinas gestoppt oder zumindest behindert werden sollte. Für Europa wird das zusehend zur Zerreißprobe.

These 12: Die Corona-Krise wird die weltwirtschaftliche Integration deutlich verändern. Eine trendartige, systematische „De-Globalisierung“ wird es aber nicht geben.

Die Globalisierung hat die Verbreitung eines Virus über Grenzen von Ländern und Kontinenten naturgemäß begünstigt. Das ist Wasser auf die Mühlen von Kritikern, die der weltwirtschaftlichen Integration skeptisch bis negativ gegenüberstehen. Nichtsdestotrotz werden die Unternehmen, solange der Staat sich nicht einmischt, kühl und pragmatisch an die Sache herangehen. Das Ergebnis der Überprüfungen wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Mit einer spürbaren Reduktion der weltwirtschaftlichen Integration ist in manchen Bereichen zu rechnen. Aber mit einer systematischen, trendartigen De-Globalisierung ist weder auf der Produktions- noch auf der Absatzseite zu rechnen.

Fazit

Allein schon die erste Bestandsaufnahme der mittelfristigen Wirkungen liefert Belege für die Vermutung, dass die Corona-Krise einen tiefen Einschnitt für die Weltwirtschaft und die Kapitalmärkte bedeuten wird. Die den Kapitalmärken zugrundeliegenden ökonomischen und institutionellen Strukturen werden sich substanziell verändern. Der Wandel wird in jedem Fall groß genug sein, dass es im Bewusstsein der Marktakteure auch in einigen Jahren noch eine Zeit davor und eine Zeit danach – post Corona – geben wird.

Jörg Zeuner ist Chefvolkswirt und Leiter Research & Investment Strategy des Portfoliomanagements von Union Investment.
Heinz-Georg Palm ist Leiter strategische Kapitalmarktkommunikation von Union Investment.
Janis Blaum ist Spezialist für Finanzkommunikation von Union Investment.

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