Diese Website verwendet Cookies. Wenn Sie unsere Seiten nutzen, erklären Sie sich hiermit einverstanden. Weitere Informationen

    Anzeige

Anzeige

Frau Dr. Flake, die Wirtschaft beklagt seit geraumer Zeit, dass es immer schwieriger wird, geeignete Fachkräfte zu finden. Wie schlimm ist der Fachkräftemangel wirklich?

Regina Flake: Wir sind schon mittendrin im Fachkräftemangel. Im Rahmen des Projekts Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) analysieren wir regelmäßig die Fachkräftesituation auf dem Arbeitsmarkt. Im Dezember 2022 erreichte die Zahl der gemeldeten offenen Stellen für Qualifizierte knapp 1,2 Millionen. Die Fachkräftelücke betrug 533.000. Das heißt für mehr als eine halbe Million Stellen gibt es aktuell auf dem Arbeitsmarkt keine passend qualifizierten arbeitslosen Fachkräfte. Das betrifft natürlich nicht alle Unternehmen gleichermaßen, denn die Situation ist je nach gesuchtem Beruf und abhängig von dem jeweiligem Unternehmensstandort sehr unterschiedlich. Auch nach Qualifikationsniveau zeigen sich große Unterschiede: Absolut gesehen besteht die größte Lücke bei beruflich qualifizierten Fachkräften, die zum Beispiel eine duale Ausbildung absolviert haben. Relativ gesehen ist die Lücke bei Expertenstellen, also Stellen für Studienabsolventinnen und -absolventen, am größten. Hier gibt es für sechs von zehn offenen Stellen keine passend qualifizierten Arbeitslose.

„Aktuell fehlen für mehr als eine halbe Million Stellen passende Bewerber. Das lässt sich nicht wegdiskutieren.“

Einige Ökonomen widersprechen der These des Fachkräftemangels. Sie sagen, dass jedes Unternehmen durch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen seine Attraktivität steigern und damit Fachkräfte gewinnen kann. Wie bewerten Sie solche Aussagen?

Flake: Aktuell fehlen für mehr als eine halbe Million Stellen passende Bewerber. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Für einzelne Unternehmen mag es stimmen, dass sie ihr individuelles Fachkräfteproblem durch eine Steigerung der Attraktivität mindern oder sogar lösen können. Aber in der Summe ist dies nicht die Lösung. Denn die Zahl der passend qualifizierten Arbeitslosen liegt aktuell in vielen Berufen unter der Zahl der offenen Stellen. Das heißt, Unternehmen müssten unter anderem auch Fachkräfte aus anderen Unternehmen gewinnen. Gesamtwirtschaftlich gesehen löst dies nicht das Fachkräfteproblem, sondern verschiebt es nur. Dennoch sollte natürlich jedes Unternehmen und jede Branche alles daran setzen, attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen. Im besten Fall führt dies dazu, dass mehr Menschen sich für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Quereinstieg in diesem Bereich entscheiden. Und das würde tatsächlich zur Lösung des Problems beitragen.

„Jedes Unternehmen und jede Branche sollte alles daran setzen, attraktive Rahmenbedingungen für Fachkräfte zu schaffen.“

Was heißt das für unsere Wirtschaft, wenn die Fachkräfte fehlen?

Flake: Die Auswirkungen sind vielfältig. In erster Konsequenz heißt das schlicht: Stellen können nicht nach- oder neubesetzt werden. Aber das löst dann schnell eine Kettenreaktion aus. Innerbetriebliche Abläufe geraten durcheinander, weil ein Glied in der Kette fehlt. In der Folge können möglicherweise Termine nicht eingehalten oder neue Aufträge nicht angenommen werden. Wenn ein Zulieferer nicht liefern kann, bekommt auch der Abnehmer Probleme, seine Produkte herzustellen – die Lieferketten sind gestört. Möglicherweise wird dem Zulieferer gekündigt. Spätestens dann hat das Unternehmen einen massiven wirtschaftlichen Schaden. Oft übernehmen andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Aufgaben der fehlenden Fachkraft zusätzlich zu ihrer eigenen Tätigkeit. Wenn sie wegen Überlastung kündigen, reißt das neue personelle Lücken im Unternehmen. So addieren sich viele kleine Baustellen schnell zu einem großen gesamtwirtschaftlichen Problem.


Welche Konsequenzen hat das perspektivisch für unser Wohlstandsniveau?

Flake: Wenn die Fachkräfte fehlen, sinkt das Wohlstandsniveau. Wir spüren die Konsequenzen doch jetzt schon. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) spricht von einem Wertschöpfungsverlust von fast 100 Milliarden Euro, wenn in Deutschland nach ihrer Rechnung fast zwei Millionen Arbeitsplätze für längere Zeit vakant bleiben. Aber genau lässt sich das natürlich nicht prognostizieren. Wir sehen zum Beispiel Engpässe im Handwerk, in der Baubranche und in vielen Ingenieursberufen. Der Fachkräftemangel bedroht außerdem zahlreiche ambitionierte politische Ziele, etwa die Energiewende oder den Bau neuer Wohnungen. Ohne Elektriker lässt sich weder ein Windrad oder eine Photovoltaik-Anlage in Betrieb nehmen noch eine Wohnung fertigstellen. Das hat Folgen für unseren materiellen Wohlstand. Der Fachkräftemangel wirkt aber weit darüber hinaus.

Wie das?

Flake: Wenn in Unternehmen Fachkräfte fehlen und im schlimmsten Fall alles auf Notbetrieb läuft, werden interne Prozesse zum Beispiel in den Bereichen Digitalisierung und Nachhaltigkeit nicht mehr angestoßen. Dann geht die Innovationskraft verloren und unsere Wettbewerbsfähigkeit leidet. Unser Wohlstand hängt nicht nur vom Wachstum unserer Wirtschaft ab, sondern auch von Fähigkeit, innovativ zu sein. Höher, schneller, weiter läuft ins Leere, wenn wir nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir sehen darüber hinaus große Lücken im Bereich der Pflege. Wenn es nicht ausreichend Pflegerinnen und Pfleger gibt, um den Bedarf zu decken, dann ist das Wohl der betroffenen Menschen ganz konkret gefährdet. In vielen Fällen springen notgedrungen nahe Angehörige ein, die die Pflege übernehmen. In dieser Zeit können sie nicht ihrem Beruf nachgehen. Das spüren auch Eltern. Weil in der Kinderbetreuung viele Erzieherinnen und Erzieher fehlen, muss ein Elternteil zu Hause bleiben oder kann weniger Stunden arbeiten als gewünscht. Damit fehlt er oder sie dann im Job. So verstärkt das fehlende Personal an der einen Stelle den Fachkräftemangel an anderer Stelle. Deshalb ist es so wichtig, auch Stellen im sozialen Bereich attraktiver zu machen, damit mehr Menschen einen dieser Berufe ergreifen und so auch an anderer Stelle für Entlastung sorgen.

„Es gibt kein Entweder-oder: Wir müssen alle inländischen und ausländischen Potenziale aktivieren.“

In der Politik werden verschiedene Lösungen für den Fachkräftemangel diskutiert, etwa mehr qualifizierte Zuwanderer ins Land zu lassen, eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren oder bessere Bildung, um einige Beispiele zu nennen. Was können Unternehmen tun, um auf diese Ansätze einzuzahlen und gleichzeitig von ihnen zu profitieren?

Flake: Die Fachkräftesituation ist aktuell so, dass es kein Entweder-oder gibt: Wir müssen alle inländischen und ausländischen Potenziale aktivieren. Dafür müssen auf makroökonomischer Ebene natürlich die politischen Rahmenbedingungen passen. Wie erfolgreich die Lösungen sind, hängt am Ende natürlich von der Umsetzbarkeit beziehungsweise Umsetzung auf mikroökonomischer Ebene, das heißt in den Unternehmen, ab. Unternehmen können durch ihre Personalarbeit neue Zielgruppen für sich gewinnen und einen wichtigen Beitrag zur Mitarbeiterbindung leisten. So können Unternehmen durch Diversity-Management von Vielfalt profitieren und neue Zielgruppen erreichen. Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitgestaltung oder auch die aktive Gestaltung von Elternzeiten können die Attraktivität des jeweiligen Unternehmens für junge und werdende Eltern steigern und auch dazu führen, dass Mitarbeitende bereit sind, ihre Arbeitszeiten auszuweiten. Ältere können für das Unternehmen gewonnen werden oder auch länger im Unternehmen gehalten werden, wenn sie beispielsweise in Stellenanzeigen gezielt angesprochen werden, ihnen passende Weiterbildungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden oder ihnen auch Flexibilisierungsspielräume bei der Altersteilzeit eingeräumt werden. Unternehmen profitieren im besten Fall nicht nur von passenden Fachkräften, sondern auch von loyalen und motivierten Mitarbeitenden.

Welche Maßnahmen würden Sie Unternehmen ganz konkret empfehlen, um ihre Fachkräfte zu halten beziehungsweise neue zu gewinnen?

Flake: Wie gerade aufgezeigt, gibt es viele Möglichkeiten für Unternehmen, aktiv zu werden. Dabei gibt es nicht „den einen Tipp“. Denn so vielfältig wie die Unternehmen und ihre jeweiligen Bedarfe, so vielfältig müssen auch die Lösungen sein. Es ist wichtig, dass Unternehmen sich im ersten Schritt mit ihrer eigenen Situation auseinandersetzen. Wo stehen wir, welche Fachkräfte haben wir, welche gehen bald in Rente, welche Fachkräfte brauchen wir? Und so weiter. Nur wenn Unternehmen sich bewusst machen, wen genau sie ansprechen und für sich gewinnen möchten, können sie auch passende Angebote entwickeln. Ein wichtiger Tipp für Unternehmen ist: Binden Sie die eigenen Mitarbeitenden ein! Diese können am besten sagen, was sie an ihrem Unternehmen schätzen oder auch welche Wünsche sie haben. Bei dem einen ist es der Wunsch nach Weiterbildungen, der andere wünscht sich Flexibilität für Hobbys und Reisen und der nächste legt viel Wert auf das Thema Nachhaltigkeit im Unternehmen. Hier gilt es, Maßnahmen zu entwickeln, die möglichst viele, auch potenzielle Mitarbeitende erreichen.


Welchen Beitrag kann Bildung leisten, um den Fachkräftemangel zu lindern?

Flake: Es ist paradox. Der Mangel an Fachkräften ist enorm, aber gleichzeitig gibt es viele Arbeitslose. Bildung kann dazu beitragen, die Bedarfe zusammenzuführen. Das fängt schon weit vor dem Start ins Berufsleben an. Vielen Jugendlichen ist der Klimaschutz wichtig, aber sie bringen das nicht mit den dazugehörigen Berufen in Verbindung, die zum Klimaschutz beitragen. Der bereits erwähnte Elektriker, der das Windrad oder die Photovoltaik-Anlage an das Netz anschließt, ist so ein Beispiel. Hier ist es wichtig, die Berufsorientierung zu verbessern. Aber auch die Unternehmen sind gefordert, Übergangspfade zu schaffen und ihre Beschäftigten kontinuierlich bedarfsgerecht weiterzuqualifizieren. Denken Sie an den Übergang vom Verbrenner zum E-Motor in der Autoindustrie. Wer bisher Dieselmotoren montiert hat, muss passend weiterqualifiziert werden, um auch mit E-Motoren umgehen zu können.

„Digitale Technologien sind wichtig, um die raren Fachkräfte bei bestimmten Tätigkeiten zu entlasten.“

Welches Potenzial sehen Sie, dem Fachkräftemangel auf andere Weise zu begegnen, zum Beispiel durch Automatisierung und optimierte Prozesse?

Flake: Die Digitalisierung kann aktuell unser Fachkräfteproblem noch nicht lösen. Autonomes Fahren wird sicher zunehmen, aber auf kurze Sicht bleiben die vielen fehlenden Lkw-Fahrer ein großes Problem. Digitale Technologien sind aber dennoch wichtig, denn sie können die raren Fachkräfte bei bestimmten Tätigkeiten entlasten, so dass sich diese auf ihre eigentlichen Tätigkeiten konzentrieren können. Sei es im Bauhandwerk, wo durch vereinfachte Kommunikation und Baustellendokumentation Zeit gespart wird, in der Logistik, in der körperlich schwere Arbeiten zum Teil überflüssig werden, oder auch in der Pflege, in der Zeit im Bereich Verwaltung und Dokumentation gespart und stattdessen mehr für die Arbeit am Patienten verwendet werden kann. Dies kann perspektivisch auch dazu beitragen, dass bestimmte Berufe wieder mehr an Attraktivität gewinnen und die Nachwuchsgewinnung einfacher wird.

Bei Genossenschaften steht der Mitgliedernutzen im Vordergrund. Welche Möglichkeiten sehen Sie bei Genossenschaften, Mitgliedernutzen auch bei der Fachkräftesicherung zu schaffen?

Flake: Gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU) können im Gegensatz zu großen Unternehmen nicht alle Maßnahmen zur Fachkräftesicherung allein umsetzen. Genossenschaften ermöglichen es KMU, gemeinsam aktiv zu werden. So können Unternehmen beispielsweise gemeinsam die Attraktivität einer Region viel besser kommunizieren als es einzelne Unternehmen können. Und wenn überregional rekrutiert wird – beispielsweise auch für die Ausbildung – lassen sich gemeinsam Lösungen zum Thema Mitarbeiterwohnen angehen. Wir haben in unserem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung auch ein schönes Praxisbeispiel, wie es einer Gruppe von Unternehmen gelungen ist, gemeinsam eine arbeitsplatznahe Kinderbetreuung anzubieten. Die beteiligten Unternehmen können so ganz klar zeigen, wie wichtig ihnen Familienfreundlichkeit ist und als Arbeitgeber an Attraktivität gewinnen.


Frau Dr. Flake, herzlichen Dank für das Interview!


Dr. Regina Flake ist Senior Economist / Teamleiterin KOFA für das Themencluster Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte am Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung

Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung – kurz KOFA – gibt es bereits seit Mai 2011. Es unterstützt kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bei der Gestaltung ihrer Personalarbeit. So gibt das KOFA zum Beispiel Tipps, wie Unternehmen durch ihre Personalarbeit neue Zielgruppen für sich gewinnen und einen wichtigen Beitrag zur Mitarbeiterbindung leisten können. Das Projekt wird im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) umgesetzt.

Artikel lesen
Topthema