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Herr Dr. Engels, Entwicklungen wie die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Weltwirtschaft und die Kapitalmärkte durcheinandergewirbelt. Erleben wir ein neues Zeitalter?

Frank Engels: Der Krieg in Osteuropa hat nicht nur Zehntausende Menschenleben gefordert und enorme Schäden verursacht – er hat auch den Übergang in eine neue Weltordnung vollendet. Auf die Globalisierung folgt nun der Großmachtwettbewerb um die weltweite Vormachtstellung zwischen den USA und China. Diese neue Ära der „Great Transformation“ wird unserer Einschätzung nach in den kommenden Jahren das Kapitalmarktumfeld maßgeblich prägen und Anlageentscheidungen unmittelbar beeinflussen.

„Wirtschaftspolitik wird zu einem Teil der Sicherheitspolitik.“

Welche wesentlichen Trends machen Sie in dieser neuen Ära aus?

Engels: In diesem Umfeld steigen die Sicherheitsbedürfnisse. Aus Sicht nationaler Regierungen erscheint es daher rational, strategische Abhängigkeiten zu reduzieren und sicherheitspolitische Risiken zu minimieren – auch um den Preis von Wohlstandsverlusten. Kurz gesagt: Wirtschaftspolitik wird zu einem Teil der Sicherheitspolitik.

Welche Folgen hat es für die Wirtschaft, wenn Staaten wie Deutschland ihre strategischen Abhängigkeiten reduzieren möchten?

Engels: Wir werden weiter grenzüberschreitenden Handel und globale Produktionsketten haben. Aber Politiker und Unternehmenslenker werden künftig die Möglichkeit internationaler Krisen und weiterer Pandemien verstärkt ins Kalkül ziehen. Unter Partnern sind strategische Abhängigkeiten in den Lieferketten und speziell bei Rohstoffen kein Problem – aber diese Zeiten sind vorbei. Denn wenn Handelspartner sich zu geopolitischen Rivalen entwickeln, werden Abhängigkeiten zum existenziellen Risiko. Die Resilienz wichtiger Lieferketten und eine größere Diversifizierung bei der Energieversorgung werden zum strategischen Imperativ. Daher gewinnen Near- und Friendshoring an Bedeutung. Mit anderen Worten: Lieferketten und Produktionsstandorte werden teilweise zurückverlagert ins eigene Staatsgebiet oder zu befreundeten Ländern.

Geschäftsjahr 2022: Union Investment mit robustem Neugeschäft in schwierigem Umfeld

  • Ergebnisse blieben hinter Ausnahmejahr 2021 zurück, übertrafen aber 2020
  • Privatkunden agierten im Krisenjahr 2022 besonnen
  • Neugeschäft mit institutionellen Kunden zog im Jahresverlauf wieder an

Union Investment hat das Geschäftsjahr 2022 trotz des schwierigen Marktumfelds, das vor allem durch die rasche Zinswende aufgrund der hohen Inflation gekennzeichnet war, gut gemeistert. Das gab die Fondsgesellschaft bei der Jahrespressekonferenz am 16. Februar 2023 bekannt. Der Nettoabsatz konnte zwar nicht an das Ausnahmejahr 2021 anknüpfen, lag mit 17,5 Milliarden Euro jedoch über dem des Jahres 2020, als die Pandemie ausbrach (2021: 40,5 Milliarden Euro; 2020: 15,1 Milliarden Euro). Das verwaltete Vermögen belief sich Ende letzten Jahres auf 413,1 Milliarden Euro (2021: 454,1 Milliarden Euro; 2020: 385,9 Milliarden Euro), während das Ergebnis vor Steuern mit 694 Millionen Euro das zweitbeste in der Unternehmensgeschichte ist (2021: 1.235 Millionen Euro; 2020: 649 Millionen Euro). „Union Investment konnte das Jahr 2022 mit einem guten Ergebnis abschließen. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen hatten wir deutliche Zuflüsse und damit ein robustes Neugeschäft“, sagte Hans Joachim Reinke, Vorstandsvorsitzender von Union Investment. „Anders als in früheren Krisen blieben die Anleger besonnen, und es kam nicht zu massiven Abverkäufen.“ Weitere Informationen zum Geschäftsjahr 2022 gibt es auf der Webseite von Union Investment.

Die USA haben ein milliardenschweres Investitionsprogramm aufgelegt. Was ist das Ziel und was bedeutet das für Europa?

Engels: Die Biden-Administration will in Schlüsselindustrien unabhängig von China werden und treibt den dafür notwendigen wirtschaftlichen Umbau voran. Eine Mischung aus Investitionsanreizen und aktiver Industriepolitik soll gewährleisten, dass die Lieferketten von Zukunftstechnologien wie Computerchips, Batterien, Elektroautos und kritischen Mineralien vornehmlich im eigenen Land oder zumindest in befreundeten Regionen angesiedelt werden. Die USA wollen den Hauptkonkurrenten China aus diesen Bereichen ausschließen. Diese Dynamik wird weiter zunehmen, denn auch den technologisch führenden europäischen Clean-Tec-Unternehmen möchte man mittels aktiver Industriepolitik Anreize für Investitionen in den USA bieten. In der Folge rechnen wir mit einem Anstieg des langfristigen Wachstumspotenzials in den USA und auf dem europäischen Kontinent. Hinzu kommen Produktivitätssteigerungen aus einem leistungsfähigeren Produktionsapparat, besserer Infrastruktur und verstärkter Digitalisierung. Besonders spürbar dürfte der Effekt in den USA ausfallen, während in Europa zunächst das Thema Energiesicherheit höchste Priorität genießt. Daher besteht die Gefahr, dass die europäischen Staaten Investitionen in den grünen und digitalen Wandel vorerst noch zurückstellen. Die positive Wirkung auf das europäische Wachstumspotenzial kann sich deshalb etwas verzögern.

Die Inflation ist zuletzt etwas zurückgegangen, verharrt jedoch auf einem hohen Niveau. Welchen Trend erwarten Sie mittelfristig?

Engels: Im Jahr 2023 dürfte sich die Gesamtinflation zwar weltweit abschwächen, ein nachhaltiger Rückgang auf Niveaus von vor Ausbruch der Coronapandemie ist aber zumindest bei der Kerninflation nicht zu erwarten. Denn in der „Great Transformation“ wirken mehrere Trends strukturell inflationstreibend. Der Investitionsboom bei Infrastruktur und neuen Produktionsstrukturen wird die gesamtwirtschaftliche Nachfrage befeuern, und nicht immer wird das Angebot Schritt halten können. In diesen Fällen wird der Markt über steigende Preise ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. Zudem werden Unternehmen nach den Erfahrungen von Pandemie und Ukrainekrieg der Sicherheit ihrer Lieferketten besondere Bedeutung zumessen – im Zweifel auch um den Preis höherer Kosten. Das Kriterium der Sicherheit und Stabilität dürfte mittelfristig deutlich an Bedeutung gewinnen. Kurzum: Resilienz schlägt Effizienz.

„Ausgehend vom aktuellen Zinsniveau sehen wir nur noch einen moderaten Bedarf für weiter steigende Zinsen.“

Um der Inflation entgegenzuwirken, haben die Notenbanken die Leitzinsen kräftig erhöht. Wie lange werden die Zinsen noch steigen?

Engels: Ausgehend vom aktuellen Zinsniveau sehen wir nur noch einen moderaten Bedarf für weiter steigende Zinsen. Wir haben im Jahr 2022 bereits einen deutlichen Anstieg der nominalen Zinsen gesehen, nicht zuletzt aufgrund der wesentlich strafferen Geldpolitik. Die für den Kapitalmarkt wichtigen Zentralbanken in den USA und der Eurozone werden ihre Leitzinsen im ersten Halbjahr 2023 noch moderat anheben mit dem Ziel, die Realzinsen in den positiven Bereich zu heben. Auch wenn derzeit deutschen Sparerinnen und Sparern nach Abzug der aktuellen Inflation noch ein negativer Realzins verbleibt, so ist bei fallender Gesamtinflation frühestens 2024 mit positiven Realzinsen zu rechnen.

„Bereits in den vergangenen Jahren waren Real- und Finanzwirtschaft relativ schwankungsanfällig. Daran dürfte sich künftig nichts ändern.“

Die Finanzmärkte haben sich in den vergangenen Monaten sehr volatil gezeigt. Rechnen Sie damit, dass sich diese Unsicherheit fortsetzt?

Engels: Bereits in den vergangenen Jahren waren Real- und Finanzwirtschaft relativ schwankungsanfällig. Daran dürfte sich künftig nichts ändern. Die geostrategische Unsicherheit, die sich aufgrund des Krieges in der Ukraine sowie des zunehmenden Großmachtwettbewerbs zwischen den USA und China ergibt, bedingt auch eine höhere makro- und mikroökonomische Unsicherheit und damit eine höhere Finanzmarktvolatilität. Zudem führt die abnehmende Bevölkerung in der westlichen Welt und in China dazu, dass sich der Fachkräftemangel zu einem generellen Arbeitskräftemangel ausweitet. Konjunkturelle Wachstumsphasen werden schneller zu Lohn- und Preisdruck führen, worauf Notenbanken wieder vermehrt mit restriktiver Geldpolitik reagieren müssen. In Summe bedeutet dies mehr Wachstums- und Inflationsvolatilität bei strukturell höheren Zinsen.
 

Wie wirken sich diese Entwicklungen auf die Kapitalmärkte aus und welche Empfehlungen haben Sie für die Anlegerinnen und Anleger?

Engels: Der neutrale US-Leitzins als Anker der Zinsmärkte sollte sich mittelfristig auf dem Niveau von ungefähr 3,5 Prozent einpendeln. Damit sind Anleihen für viele Anleger wieder zurück im Spiel. Wir sehen die Rentenmärkte vor einer Renaissance. Technisch gesprochen verflacht sich die Rendite-Risiko-Linie an den Kapitalmärkten, Anleihen gewinnen also relativ gegenüber Aktien nach und nach an Attraktivität. Die Entwicklung an den Aktienmärkten dürfte künftig weniger stark von Wachstumstiteln abhängen. Denn seit der globalen Finanzkrise war Wachstum knapp, und Investoren waren bereit, einen Aufschlag auf entsprechende Werte zu bezahlen. Mit dem höheren Wachstumsniveau entfällt dieser Anreiz, und Substanzwerte werden attraktiver. Eine ausgewogene Allokation bei Aktien erscheint daher ratsam.

Welche Aktien sollten sich die Anlegerinnen und Anleger in ihren Korb legen?

Engels: Mit Blick auf die Aktienselektion empfehlen wir, den Fokus stärker auf die Gewinnmargen zu legen. Seit 1999 fußte das Gewinnwachstum der Unternehmen zu einem großen Teil auf Margenausweitungen und Umsatzwachstum. In der Ära der „Great Transformation“ kommen die Gewinnmargen unter Druck. Ineffizientere Lieferketten, ein knapperes Arbeitskräfteangebot und höhere Zinsen werden die Kosten steigen lassen. Nicht jedes Unternehmen wird diese Belastungen durch Preissteigerungen auffangen können. Damit gewinnen stabile oder gar steigende Gewinnmargen an Bedeutung für den Anlageerfolg. Besonders aussichtsreich dürften daher Unternehmen sein, die beständige und hohe Gewinnmargen aufweisen oder aber gering verschuldet sind, ganz unabhängig von Branchen und Regionen. Herausforderungen sehen wir hingegen für frühere Globalisierungsgewinner.


Welche Lehren sollten die Volksbanken und Raiffeisenbanken aus den von Ihnen skizzierten Entwicklungen ziehen?

Engels: Wir sehen Trendbrüche bei wesentlichen Merkmalen der vergangenen Jahre. Anlegern wie zum Beispiel auch den Volksbanken und Raiffeisenbanken raten wir daher, das neue Wachstumsregime bei der künftigen Anlagepolitik schon heute zu berücksichtigen.


Herr Dr. Engels, herzlichen Dank für das Gespräch!


Dr. Frank Engels ist seit Juli 2022 Mitglied des Vorstands der Union Asset Management Holding AG. Als Chief Investment Officer verantwortet er das Portfoliomanagement für Wertpapiere.

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