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Jeder Lesefreund liebt es, neue Bücher auszusuchen: vorsichtig den Buchrücken aufschlagen, über die Seiten streichen, an Papier und Druckerschwärze riechen. Auch Andrea Straub mag dieses Ritual. Bücher sind ihre große Leidenschaft. „In Büchern kann ich in andere Welten eintauchen, mich in frühere Zeiten katapultieren oder in fremde Länder reisen, die ich nie besuchen werde. Die richtigen Bücher entführen einen an einen Ort weit weg vom Alltagsstress“, schwärmt sie und zieht eines ihrer momentanen Lieblingsbücher aus dem Regal – „Jahre mit Martha“ von Martin Kordić. „Vordergründig eine sommerliche Liebesgeschichte. Und doch viel, viel mehr“, sagt die 56-jährige Buchhändlerin, blättert kurz durch die Seiten und stellt den Roman zurück zu den anderen.

Ihr Blick wandert über die Regale im Laden, am liebsten würde sie noch weitere literarische Schätze herausziehen. Von ihnen gibt es im Kemptener Buchladen „Lesezeichen“ jede Menge. Zwischen den 2.000 Exemplaren stehen vor allem Geschichten von unbekannteren Autoren und kleineren Verlagen, die es bei den großen Ketten wahrscheinlich nie auf die Bestseller-Wand schaffen werden oder auf den Bücherwagen vor den Schaufenstern. Im „Lesezeichen“ gibt’s das Außergewöhnliche, Individualität statt Mainstream, persönliche Beratung statt Buchtipps, die ein Algorithmus erstellt.

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Das „Lesezeichen“ ist Bayerns erste Buchhandlung, die genossenschaftlich geführt wird. Die Vorstandsvorsitzende Andrea Straub berichtet im Video darüber, wie es dazu gekommen ist. Video: Xenia Schmeizl und Karl-Peter Lenhard, Genossenschaftsverband Bayern.

Individualität statt Mainstream, persönliche Beratung statt Buchtipps vom Algorithmus

Außergewöhnlich ist nicht nur das Angebot. Das „Lesezeichen“ nimmt in Bayerns Buchhandel-Landschaft einen besonderen Platz ein. Es ist der erste genossenschaftliche Buchladen im Freistaat. Auch im Rest der Republik ist das Modell einzigartig: Nur sehr wenige Buchgeschäfte sind in Deutschland genossenschaftlich organisiert und tragen ein eG im Namen.

„Die richtigen Bücher entführen einen an einen Ort weit weg vom Alltagsstress.“

Andrea Straub, Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft

Rückblick: Vor 40 Jahren eröffnete die Buchhandlung am Rathausplatz in Kempten. Was als Frauenbuchhandlung begann, wurde später das „Lesezeichen“, das im Jahr 2016 sogar den Deutschen Buchhandelspreis erhielt. Herausforderungen gab es in vier Jahrzehnten viele – besonders der Boom der großen Online-Riesen seit den Nullerjahren machte den kleinen Buchgeschäften das Leben schwer. Doch das „Lesezeichen“ blieb und behauptete sich in Kempten neben den großen Ketten und anderen unabhängigen Buchläden. Auch Corona meisterte das „Lesezeichen“-Team – dank Lieferservice, Abholstation und vielen treuen Kundinnen und Kunden.

Doch im Januar 2022 stand der Laden kurz vor dem Aus. Die damalige Besitzerin Daniela Haberkorn wollte nicht mehr. „Die Pandemiejahre haben an mir gezehrt. Dazu kamen gesundheitliche Probleme“, sagt sie. Nach so vielen Jahren zuzuschließen – ein schwerer Schritt für die 64-Jährige. Ihr Herz hing an dem Geschäft und an ihren Kundinnen und Kunden. „Viele halten uns seit 40 Jahren die Treue und haben schon bei meiner Vorgängerin Bücher gekauft. Sie waren entsetzt, als sie hörten, dass wir zumachen“, sagt Haberkorn. Und doch stand der Entschluss fest: Sie wollte in den Ruhestand gehen. Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich schwierig. Interessenten gab es zwar, aber niemand, der einen Buchladen weiterführen wollte. Das war Haberkorn aber wichtig.

„Viele halten uns seit 40 Jahren die Treue und haben schon bei meiner Vorgängerin Bücher gekauft. Sie waren entsetzt, als sie hörten, dass wir zumachen.“

Daniela Haberkorn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft

Dann kam ihr der Gedanke, eine Genossenschaft zu gründen. Aus einem Gedanken wurde eine Idee, aus der Idee ein Plan. Und aus dem Plan wurde Realität. „Wir haben es geschafft, innerhalb kürzester Zeit 35 Kundinnen und Kunden als Genossen zu gewinnen. Es war überwältigend, wie groß der Zuspruch war, wie viele Menschen sich sofort bereit erklärten, Mitglied zu werden“, sagt Andrea Straub.

35 Kundinnen und Kunden waren sofort bereit, Genossen zu werden

Rund 60.000 Euro waren für den Neustart als Genossenschaft nötig. „Wir hatten die Summe durch die Einlagen der Genossen in nur zwei Wochen beisammen“, erzählt Straub und blickt zu Haberkorn, als könne sie alles selbst noch nicht ganz glauben. Schnell findet sich um die beiden Frauen ein Team zusammen, das bei der Genossenschaftsgründung mit anpackt. Es nimmt Kontakt zum Genossenschaftsverband Bayern auf, Bahar Ucar aus dem Team der GVB-Gründungsberaterinnen und -berater unterstützt bei den Schritten zur eG. Ende November 2022 treffen sich die Mitglieder zur Gründungsversammlung, Straub wird zur Vorstandsvorsitzenden gewählt, Haberkorn zu ihrer Stellvertreterin. Die erste genossenschaftlich organisierte Buchhandlung geht an den Start. Es ist geschafft.

Schmökern in Wohnzimmeratmosphäre

Haberkorn und Straub sitzen inzwischen im hinteren Bereich der Buchhandlung, dort, wo sich normalerweise Kundinnen und Kunden zum Schmökern zurückziehen. Gedämpftes Licht, gemütliche Atmosphäre, Stühle zum Fläzen – hier fühlen sich Buchfans fast wie im eigenen Wohnzimmer. Neben der Sitzecke gibt’s kostenlosen Kaffee, den die Leserinnen und Leser im Sommer auch auf der Terrasse des Ladens genießen können. Dazu ein gutes Buch.

Genossenschaft gründen: Der GVB unterstützt

Nur drei Personen braucht eine eG zur Gründung. Jedes Mitglied hat eine Stimme. Diese und viele Vorteile machen die Genossenschaft zu einer attraktiven Rechtsform. Der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) unterstützt Genossenschaftsgründer mit einem umfangreichen Dienstleistungsangebot. So können sich potenzielle Gründer auf der Webseite des GVB über die Rechtsform sowie die notwendigen Schritte informieren.

Dazu gibt es zahlreiche Dokumente zum Download, zum Beispiel einen Rechtsformenvergleich, eine Checkliste zur Genossenschaftsgründung, Hinweise zum Geschäftsplan, eine Mustersatzung sowie eine Mustereinladung und ein Protokollmuster für die Gründungsversammlung. Zudem hat der GVB die häufigsten Fragen zur Genossenschaftsgründung zusammengestellt. Für weitere Informationen steht das GVB-Gründungsteam gerne zur Verfügung.

Straub ist Quereinsteigerin. Früher arbeitete sie im familiengeführten Elektrobetrieb. Lesen war für sie eigentlich immer nur ein Hobby, eines, das sie bereits seit ihrer Kindheit begleitet. „Man sah mich von klein auf immer mit einem Buch in der Hand“, erinnert sie sich. Die Liebe zu Büchern, zur Literatur, zum Geschriebenen ließ sie nie los. „Es war immer in meinem Kopf, einmal im Buchhandel zu arbeiten“, sagt sie. 2014 wurde aus dem Hobby ihr Beruf. Sie fängt – zunächst nur stundenweise – als Mitarbeiterin in der Kemptener Buchhandlung „Lesezeichen“ an. An ihrer Seite: Daniela Haberkorn.

„Mit Anfang 50 hatte ich keine Lust mehr zu unterrichten und wollte meinen Traum verwirklichen, den Traum einer eigenen Buchhandlung.“

Daniela Haberkorn

Auch Haberkorn kommt nicht aus der Buchbranche. Lange Jahre war sie Lehrerin an einer Berufsoberschule für die Fächer Deutsch, Geschichte und Ethik. Doch genau wie Straub sah sie ihre berufliche Zukunft woanders. „Mit Anfang 50 hatte ich keine Lust mehr zu unterrichten und wollte meinen Traum verwirklichen, den Traum einer eigenen Buchhandlung“, betont Haberkorn. 2009 steigt sie als Teilhaberin im „Lesezeichen“ ein, 2013 wird sie die alleinige Besitzerin. Als ein Jahr später Andrea Straub hinzukommt, werden die beiden Frauen schnell ein Team und nach kurzer Zeit auch Freundinnen. Die Chemie stimmt – das spürt der Kunde sofort, wenn er das Kemptener Geschäft betritt. „Das ist uns wichtig. Die Menschen sollen gern zu uns kommen. Der Laden lebt von der persönlichen Beziehung“, ist Straub überzeugt und begrüßt eine ältere Dame, die zur Tür hereinkommt. „Eine unserer vielen Stammkundinnen“, freut sich die Vorstandsvorsitzende. Die Frau schaut sich kurz um, marschiert zielsicher zu einem der Bücherregale. Straub kommt zu ihr, fragt, wie es ihr geht, was es Neues gibt. Eine lange Beratung braucht es nicht. Schnell ist das richtige Buch gefunden. „Wir kennen unsere Kunden – und ihre Lesegewohnheiten“, erklärt Straub, während sie kassiert. Strahlend verlässt die Dame mit „Deutschland à la française“ von Pascale Hugues in den Händen den Laden.

Dass der Laden nun genossenschaftlich organisiert ist, spielt für die Kundschaft keine Rolle. „Für sie hat sich nichts geändert. Das war uns und denjenigen, die dem ,Lesezeichen‘ seit Jahrzehnten die Treue halten, wichtig“, sagt Straub. Die meisten kämen genau deshalb immer wieder, weil sie das Kemptener Geschäft für das schätzen, was es ist: Ein Ort zum Entdecken, Entspannen, Stöbern und Wohlfühlen, eine schnuckelige Buchhandlung mit besonderem Flair und Charme, mit individueller Beratung und guten Empfehlungen.

Ein Ort zum Entdecken, Entspannen und Stöbern

Auf die Empfehlungen können die Bücherfans auch in Zukunft vertrauen. Neben Straub und Haberkorn stehen an unterschiedlichen Tagen zwei Genossinnen und ein Genosse im Laden und beraten. Außerdem gibt es noch viele weitere Mitglieder, die mit anpacken. „Es ist super, dass bei einer Genossenschaft Aufgaben auf viele Schultern verteilt werden. Es herrscht ein unglaublicher Spirit, das ist bemerkenswert“, betont Haberkorn, die nur noch einmal die Woche im „Lesezeichen“ steht und so ihren Ruhestand genießen kann, ohne dem Buchhandel ganz den Rücken zu kehren.

Haberkorn kann sich vorstellen, dass genossenschaftliche Buchhandlungen in Bayern ein Modell für die Zukunft sind. Gerade dann, wenn es keinen Nachfolger gebe. „Es ist ja oft so, dass dann eine Genossenschaft ins Leben gerufen wird.“ Für sie passen Genossenschaft und Buchhandel sehr gut zusammen. „Bei einer Genossenschaft steht nicht der Profit im Vordergrund.“ Dieser Gedanke gefällt Haberkorn. Um den maximalen Gewinn sei es ihr auch früher, als das „Lesezeichen“ noch ihr gehörte, nie gegangen. Klar habe sich alles rechnen müssen. „Wenn ich aber in einer Buchhandlung kleine Verlage promoten will, so wie ich es immer getan habe, dann kann ich nicht auf das große Geld hoffen“, betont Haberkorn. Auch den Mitgliedern gehe es nicht um den Gewinn, für sie stehe der Erhalt des Traditionsbuchgeschäfts im Fokus.

„Reich wird man im Buchhandel nicht“, ergänzt Straub und lacht. Trotzdem möchte sie keinen anderen Beruf. Vielleicht ist es dieses besondere Gefühl, ein Buch zu entdecken. Es aufzuschlagen, über die Seiten zu streichen, am Papier und der Druckerschwärze zu riechen, die ersten Sätze zu lesen und zu spüren, wie sich die schwarzen Buchstaben auf weißem Papier plötzlich verselbstständigen und uns mitreißen – in eine andere Zeit, in ein anderes Land, in eine andere Welt.

Buchtipps von Andrea Straub und Daniela Haberkorn

„Drei“ von Dror Mishani (2021)

Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hat. Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Eine dritte Frau sucht etwas ganz anderes. Sie alle finden denselben Mann. Es gibt vieles, was sie nicht über ihn wissen, denn er sagt ihnen nicht die Wahrheit. Aber auch er weiß nicht alles über sie.

„Wintersonne“ von Katrin Engberg (2022)

In Kopenhagen wird in einem alten Koffer die Hälfte einer Leiche gefunden. Anette Werner muss den grausamen Mord allein aufklären, denn ihr Kollege Jeppe Kørner nimmt gerade eine Auszeit vom Polizistendasein und ist für den Winter nach Bornholm gezogen. Doch bald holt ihn sein Beruf wieder ein, denn alle Spuren führen auf die abgelegene Insel – und tief in die Vergangenheit.

„Jahre mit Martha“ von Martin Kordić (2022)

Željko, der von allen »Jimmy« genannt wird, ist fünfzehn, als er sich in Martha verliebt. Sie ist Professorin in Heidelberg, er lebt mit seinen Eltern und Geschwistern zu fünft in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Martha hat, was Željko sich sehnlichst wünscht: Bücher, Bildung und Souveränität. Mit Martha besucht er zum ersten Mal ein Theater, sie spricht mit ihm, wie sonst niemand mit ihm spricht. Mit Marthas Liebe wächst Željkos Welt. Doch welche Welt ist es, die er da betritt und wen lässt er dafür zurück? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Begehren und Ausbeutung?

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