Angespannt: Die deutschen Apotheken stehen wirtschaftlich unter Druck. Was die Mitglieder des genossenschaftlichen Pharma-Großhändlers Sanacorp bewegt, sagt Vorstandschef Herbert Lang.
Herr Neuss, die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände warnt vor erneuten Arzneimittel-Engpässen im Winter, mehr als 500 Medikamente gelten demnach als schwer verfügbar. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?
Patrick Neuss: Insgesamt sind rund 140.000 Arzneimittel in Deutschland registriert, 500 davon sind aktuell schwer verfügbar. Die Liste der betroffenen Präparate variiert, aber: Lieferengpässe gab es schon immer. Die Corona-Pandemie hat die Fragilität der weltweit vernetzten Lieferketten allerdings deutlich aufgezeigt, denn die Produktionsstätten liegen vornehmlich im außereuropäischen Ausland. Folgen für die Versorgung haben alle Lieferengpässe, weit kritischer sind aber komplette Lieferausfälle, der Mangel an Alternativen oder bestimmten Darreichungsformen sowie sehr lange Wartezeiten, bis ein Arzneimittel wieder verfügbar ist. Das zeigt sich bei großen Krankheitswellen und hier bei bestimmten Antibiotika, insbesondere für Kinder, als deutlicher Mangel. Aktuell gibt es Lieferschwierigkeiten bei Mitteln zur Behandlung von Auffälligkeiten bezüglich Cholesterin, bei Blutdrucksenkern und bestimmten Augentropfen. Noch kann hier in der Regel aber substituiert werden.
„In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass das System aus genossenschaftlich-pharmazeutischem Großhandel und den Vor-Ort-Apotheken diese Herausforderungen erfolgreich meistert.“
Wie stellt sich die Situation insbesondere bei der Sanacorp dar?
Neuss: Wir sind gut auf die Herausforderungen eingestellt und im fortlaufenden Kontakt mit unseren pharmazeutisch-produzierenden Industriepartnern. Für unsere Mitglieder und Kunden beobachten wir alle Marktentwicklungen sehr genau und schaffen so frühzeitig Verfügbarkeiten bei Alternativpräparaten. Auch sorgen wir über unser deutschlandweites Niederlassungsnetzwerk für eine bestmöglich gesteuerte Verteilung an die Vor-Ort-Apotheken. In Ausnahmesituationen, wie der Corona-Pandemie, hat sich gezeigt, dass das System aus genossenschaftlich-pharmazeutischem Großhandel und den Vor-Ort-Apotheken diese Herausforderungen erfolgreich meistert.

Sanacorp-Logistikzentrum in Neuenstein bei Bad Hersfeld: Der genossenschaftliche Pharma-Großhändler beobachtet alle Marktentwicklungen sehr genau und schafft frühzeitig Verfügbarkeiten bei Alternativpräparaten.
Wie ernst sind solche Warnungen vor Arzneimittel-Engpässen wie jüngst von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände zu nehmen? Gab es in der Vergangenheit schon medizinische Notfälle aufgrund fehlender Medikamente?
Neuss: Arzneimittel sind keine normale Handelsware. Ihr Wert für die Menschen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Daher sind Lieferengpässe per se ein ernstes Problem. Medizinische Notfälle sollten dabei nicht das alleinige Maß sein, um die Herausforderung zu bewerten. Weite Wege und/oder Wartezeiten für Familien mit Kindern, Bangen um eine gesicherte Regelversorgung von chronisch Kranken, fehlende – individuell besonders verträgliche – Darreichungsformen und Einschränkungen bei wirksamen Alternativen sollten bereits ein ausreichender Grund sein, um mit Hochdruck nach schnellen Lösungen zu suchen.
„Aufgrund von wirtschaftlichen Interessen sind Abhängigkeiten entstanden, die nun schmerzhaft spürbar sind.“
Wo liegen die Ursachen für die anhaltenden Probleme?
Neuss: Es ist unbestritten, dass Deutschland nicht mehr die Apotheke der Welt ist. Aufgrund von wirtschaftlichen Interessen sind Abhängigkeiten entstanden, die nun durch eine wechselhafte Verlässlichkeit der Partner und/oder geopolitischen Gegebenheiten schmerzhaft spürbar sind. Gleichzeitig sind die Produktionsvorgaben und -kosten in der EU sehr hoch und eine Rückverlagerung ist nicht von heute auf morgen umsetzbar; finanzielle Anreize allein werden also nicht ausreichen.

Sanacorp-Zentrale in Planegg bei München: Das Unternehmen sieht sich gut auf die Herausforderungen von möglichen Arzneimittel-Engpässen eingestellt und steht im fortlaufenden Kontakt mit seinen pharmazeutisch-produzierenden Industriepartnern.
Welche grundlegenden Lösungsansätze sehen Sie, um Arzneimittel-Engpässen vorzubeugen oder das Problem zumindest abzumildern?
Neuss: Es braucht eine Neubewertung des Werts von Arzneimitteln für die Bevölkerung und damit auch der leistungsfähigen Strukturen, die über viele Jahrzehnte eine zuverlässige, kompetente und schnelle Versorgung sicherstellen. Das gibt es nicht zum Nulltarif. Mehr Produktion in einem stabilen wirtschaftlichen und politischen Rahmen ist ebenfalls unausweichlich. Eine verbesserte Zusammenarbeit und Information aller Beteiligten im Gesundheitswesen und die Stärkung der Vor-Ort-Apotheke als niederschwelliger Gesundheitsdienstleister tragen dazu bei, sowohl bei der Prävention als auch bei der medikamentösen Therapie, Patienten gemeinsam zu begleiten.
Herr Neuss, herzlichen Dank für das Interview!