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Herr Dr. Gros, Ende Oktober endet die Ära Draghi bei der Europäischen Zentralbank. Wie fällt Ihr Urteil über seine achtjährige Amtszeit aus?

Jürgen Gros: Gespalten. Herr Draghi hat 2012 den Euro gerettet, als er mit klaren Worten ein Auseinanderbrechen der Währungszone verhindert hat. Das darf er sich zu Gute halten. Die Medaille hat jedoch auch eine Kehrseite und das sind die erheblichen Nebenwirkungen seiner extremen geldpolitischen Maßnahmen. Der Krisenmodus der EZB ist unter Draghi zur Normalität geworden. Das bereitet mir Sorgen.


Welche Nebenwirkungen sehen Sie?

Gros: Die Niedrigzinsen entfalten zunehmend eine gefährliche Wirkung. Sie erschweren Sparern die Altersvorsorge massiv, zumal gleichzeitig Wertpapierkäufe durch staatliche Anlegerbürokratie erschwert werden. Sie treiben das Risiko von Preisblasen an den Kapital- und Immobilienmärkten. Und sie tragen dazu bei, dass sich selbst überschuldete EU-Staaten zu Bestkonditionen refinanzieren können. Dringend notwendige Strukturreformen sind deshalb in den vergangenen Jahren auf der Strecke geblieben. Jetzt steckt die EZB in der Sackgasse. Sie kann im derzeitigen Abschwung die Zinsen kaum noch weiter senken, weil sie ihr Pulver verschossen hat. Und sie kann im nächsten Aufschwung die Zinsen nur bedingt anheben, weil das der Zündfunke für eine neue Staatsschuldenkrise sein könnte.


Wie hat sich die Ära Draghi auf das Geschäft der bayerischen Volksbanken und Raiffeisenbanken ausgewirkt?

Gros: Sie müssen tiefer in die Geschäftszahlen einsteigen, um die Effekte zu sehen. Auf den ersten Blick haben die bayerischen Volksbanken und Raiffeisenbanken in der Amtszeit von Herrn Draghi aus eigener Kraft durchwegs ordentliche Gewinne erzielt. Sie sind erfolgreich im Kreditgeschäft gewachsen und haben ihre Kosten im Blick behalten. Natürlich haben die Kreditgenossenschaften auch von der guten Konjunktur im Freistaat profitiert. Es gab kaum Kreditausfälle und der Mittelstand hat kräftig investiert und viele Finanzierungen abgerufen.

„Das Thema Negativzinsen müssen wir dringend versachlichen.“

Wo liegt dann das Problem?

Gros: Draghi hat die Zinsspannen auf Talfahrt geschickt. In seiner Amtszeit haben sie sich im Verhältnis zur Bilanzsumme um 0,75 Prozentpunkte auf voraussichtlich 1,70 Prozent zum Jahresende verringert. Das belastet die Institute erheblich. Bislang konnten sie dem Rückgang mit verbesserten Provisionserträgen und dem regen Kreditgeschäft entgegenwirken. Die Spuren der EZB-Politik waren deshalb in den Ergebnissen nicht so deutlich zu erkennen. Das wird in Zukunft aber nicht mehr so leicht gelingen. Allein im laufenden Geschäftsjahr rechnen unsere Mitgliedsbanken mit einem Rückgang des Zinsergebnisses von rund 70 Millionen Euro. Zudem stehen die Banken unter massivem Anlagedruck. Für den Überhang auf der Passivseite finden sich bei mittlerweile auch negativ verzinsten Staats- und Unternehmensanleihen keine rentierlichen Anlagen mehr.


Werden Privatkunden der Volksbanken und Raiffeisenbanken deshalb in Zukunft verstärkt Verwahrentgelte für ihre Einlagen zahlen müssen?

Gros: Das Thema Negativzinsen müssen wir dringend versachlichen. Der durchschnittliche Kunde der Volksbanken und Raiffeisenbanken in Bayern verfügt über Einlagen in Höhe von rund 19.000 Euro. Ich sehe für den Moment nicht, dass wir uns bei solchen Beträgen in der Sphäre von Negativzinsen bewegen werden. Bei höheren, sechsstelligen Beträgen kann das anders aussehen. Aber darüber entscheidet jede der 236 Mitgliedsbanken eigenständig – und unter Berücksichtigung der geltenden Rechtslage. Die lässt beispielsweise eine Anpassung der Konditionen bei Bestandskunden nicht ohne weiteres zu.

„Die Kreditgenossenschaften prüfen intensiv, welche Geschäftspotenziale ihnen digitale Plattformen bieten.“

Wie werden die Banken dann mit den Belastungen durch die Niedrigzinspolitik fertig?

Gros: Die bayerischen Volksbanken und Raiffeisenbanken konzentrieren sich auf Potenziale in ihrem Kundengeschäft, sie werden die Arbeit auf der Kostenseite intensivieren und die Zusammenarbeit im Verbund stärken. Gleichzeitig prüfen die Kreditgenossenschaften intensiv, welche Geschäftspotenziale ihnen digitale Plattformen bieten können und welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um sie zu nutzen.


Die EZB argumentiert, dass sie mit den niedrigen Zinsen die Banken dazu anregen will, ihr Kreditangebot auszuweiten. Funktioniert das?

Gros: In Deutschland läuft die Kreditvergabe. Allein die Volksbanken und Raiffeisenbanken in Bayern haben vergangenes Jahr das Volumen der ausgereichten Firmenkundenkredite um 3,8 Milliarden Euro gesteigert. Anders sieht es nach wie vor in einigen südeuropäischen Ländern aus, in denen Unternehmen Schwierigkeiten haben, Finanzierungen zu erhalten. Das liegt aber zum Teil an den dortigen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel dem Insolvenzrecht. Das zu verändern ist eine strukturpolitische und keine geldpolitische Aufgabe. Insofern ist die EZB mit einem Instrumentenkasten unterwegs, der den unterschiedlichen Rahmenbedingungen in der Eurozone nicht gerecht wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber noch etwas ganz anderes.


Was meinen Sie?

Gros: Auf der einen Seite treten die Geldpolitiker bei der EZB aufs Gas und senken die Zinsen, um die Kreditvergabe im Euroraum anzuheizen. Gleichzeitig sind die EZB-Bankenaufseher wegen der regen Kreditvergabe in Deutschland alarmiert und treten auf die Bremse. Sie wittern Risiken, die sie mit erhöhten Eigenkapitalpuffern absichern wollen. Die EZB konterkariert sich selbst.

„Die notwendige Normalisierung der Geldpolitik rückt in weite Ferne.“

Was erwarten Sie von Draghis Nachfolgerin, der Französin Christine Lagarde?

Gros: Frau Lagarde sollte dringend die Politik ihres Vorgängers kritisch hinterfragen. Sie sollte prüfen, ob der Instrumenteneinsatz der EZB tatsächlich hilft, die ausgegebenen Ziele zu erreichen. Das heißt, entsteht durch die Zinspolitik wirklich eine höhere Kreditnachfrage? Tragen die Maßnahmen dazu bei, das Inflationsziel von unter, aber nahe zwei Prozent zu erreichen? Und nicht zuletzt sollte auch die EZB kritisch hinterfragen, ob sie mit ihrer Politik die richtigen Anreize für überschuldete EU-Mitgliedstaaten setzt, endlich ihre Haushalte zu sanieren.

Rechnen Sie mit einem schnellen geldpolitischen Kurswechsel?

Gros: Nein. Herr Draghi hat den expansiven Kurs der EZB in der September-Ratssitzung zementiert. Indem er den Einlagenzinssatz weiter gesenkt und das Wertpapier-Kaufprogramm reaktiviert hat, hat er die Märkte längerfristig auf Tiefzinsen eingestimmt. Von diesem Pfad könnte Frau Lagarde gar nicht so schnell abweichen. Will sie aber auch gar nicht, wie sie bei ihrem Auftritt im September im Europäischen Parlament gesagt hat. Die notwendige Normalisierung der Geldpolitik rückt in weite Ferne.


Es bleibt also bei den weiterhin niedrigen Zinsen?

Gros: Wir stellen uns darauf ein, dass die Zinsen noch lange niedrig bleiben werden. Das liegt übrigens nicht nur an der Geldpolitik der EZB. Es gibt auch strukturelle Gründe dafür, zum Beispiel die sinkende Nachfrage nach Investitionsgütern in der digitalen Wirtschaftswelt. Denn dort, wo weniger Kapital für Maschinen nachgefragt wird, sinkt auch der Preis für das Geld. Gleichzeitig ist insbesondere Deutschland eine alternde Gesellschaft. Es wird mehr gespart, auch das drückt auf das Zinsniveau.


Hätten Sie lieber Herrn Weidmann an der EZB-Spitze gesehen?

Gros: Die Würfel sind gefallen. Für Herrn Weidmann hätte ich persönlich Sympathien gehabt. Die Auswahl von Frau Lagarde folgte einem politischen Masterplan. Denn es gibt ein massives Interesse der französischen Politik an niedrigen Zinsen. Deswegen war für Paris die französische EZB-Präsidentschaft auch viel wichtiger als der Kommissionsvorsitz. Die Herrschaft über die EZB hilft den heimischen Großbanken und der Refinanzierung der Staatsschulden. Auch daran sehen wir, wie die EZB immer mehr zur Dienerin der Politik wird.


Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Gros!

Dr. Jürgen Gros ist Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB). Er twittert als @JGros_GVB und ist Mitglied des Netzwerks LinkedIn.

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