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Christine Lagarde wusste, welchen Satz jeder von ihr hören wollte. Doch die frühere französische Finanz- und Wirtschaftsministerin, die in den vergangenen acht Jahren den Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington geleitet hat, sagte ihn an diesem Tag im September im EU-Parlament nicht. Im Gegenteil.

Als künftige Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) werde sie die Nullzins-Politik ihres Vorgängers Mario Draghi „noch längere Zeit“ fortsetzen, betonte sie bei der Anhörung durch die Abgeordneten des Wirtschafts- und Währungsausschusses. Zwar setzte sie hinzu: „Wir müssen die negativen Folgen und Nebeneffekte im Blick haben. Ich weiß, welch tiefgreifende Auswirkungen das für die Menschen hat.“ Aber trotzdem sei diese lockere Geldpolitik weiterhin erforderlich, weil sich die EZB und die Notenbanken der Mitgliedstaaten schon auf die nächsten Krisen einstellen müssten. 

Umstrittene Berufung

Für Sparer ist das keine gute Nachricht. Die Währungshüter hielten den Leitzins in den vergangenen Jahren auf dem Rekordtief von null Prozent. Den Zinssatz für die Einlagefazilität drückte Draghi zuletzt auf minus 0,5 Prozent. Auf seiner vorletzten EZB-Ratssitzung als EZB-Präsident zurrte der Italiener diesen Kurs auch mit der Neuauflage des Wertpapierkaufprogramms langfristig fest. Kann die neue Präsidentin daran rütteln? Und will sie es überhaupt?

„Es ist bemerkenswert, dass eine Juristin Chefin der Notenbank werden kann, während niemand auf die Idee käme, dass eine Ökonomin ein oberstes Gericht leiten könnte“, sagte kürzlich die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel. Das zeigt, dass die Berufung umstritten ist und es Zweifel gibt. Dabei hat sich Lagarde als französische Wirtschafts- und Finanzministerin sowie als IWF-Chefin einen ordentlichen Ruf erworben. Dass sie einmal so etwas wie einen Schwur der Hörigkeit abgelegt hatte, als sie ihrem damaligen Chef, Staatspräsident Nicolas Sarkozy, blinden Gehorsam versprach, spielt fast keine Rolle mehr.

Inflationsziel in der Diskussion

Für manche ist Lagarde gar ein Hoffnungsschimmer. Dabei kommt ihr zugute, dass Frankreich immer schon als das Land galt, das die EZB am liebsten zum aktiven Instrument seiner Wirtschaftspolitik machen will. Dem steht allerdings die Unabhängigkeit der Notenbank und ihre Fokussierung auf das Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ im Weg. Ob dieses Ziel nachjustiert werden muss, darüber ist bereits eine Diskussion entbrannt. Dieser wird sich Lagarde nicht entziehen können.

Eine weitere Baustelle: Lagarde will die Arbeit der EZB deutlich transparenter und demokratischer ausgestalten. Die US-amerikanische Fed macht längst vor, dass eine Offenlegung von unterschiedlichen Positionen dem Ansehen des Hauses nicht schadet. Lagarde, die als starke Kommunikatorin gilt, versprach denn auch bei ihrer Anhörung im Parlament, sie wolle den Dialog mit Politikern ebenso wie mit Bürgern. Sie könne es schaffen, die komplizierte Materie der Geldpolitik besser zu vermitteln, sagt Ökonomin Schnabel. 

Von der Synchronschwimmerin zur EZB-Präsidentin

Ihre Vielseitigkeit stellte die Französin Christine Lagarde (* 1. Januar 1956 in Paris) schon während ihres Studiums unter Beweis. In Paris, Aix-en-Provence und Avignon machte sie Ende der 1970er Jahre je einen Master mit den Schwerpunkten Handelsrecht, Wirtschaft und Finanzen sowie amerikanischer Literatur. Auch sportlich bewies Lagarde als Teil der französischen Nationalmannschaft im Synchronschwimmen Talent. Nachdem sie in Paris als Anwältin zugelassen worden war, heuerte sie bei der internationalen Anwaltskanzlei Baker McKenzie aus Chicago an und stieg dort bis zur weltweiten Vorstandsvorsitzenden auf. 2005 holte sie der damalige französische Staatspräsident Jacques Chirac als Handelsministerin in sein Kabinett. Nach einer kurzen Zwischenlandung als Ministerin für Landwirtschaft und Fischerei wurde sie 2007 französische Wirtschafts- und Finanzministerin unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Im Juli 2011 wechselte Lagarde als Geschäftsführerin des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach Washington, D.C. Wie schon als Finanz- und Wirtschaftsministerin in Frankreich war Lagarde auch beim IWF die erste Frau, die dieses Amt bekleidete. Nach ihrer Nominierung als EZB-Präsidentin stellte Lagarde – Mutter von zwei Söhnen – ihr Amt als IWF-Geschäftsführerin zur Verfügung.

Was sind angemessene Instrumente?

Tatsächlich muss die EZB lernen, sich mit Kritik auseinanderzusetzen – auch um mehr Verständnis für ihre Arbeit herzustellen. Das bekam Lagarde in Brüssel bei ihrer Befragung deutlich zu spüren. Schon die erste Frage des CSU-Finanzpolitikers Markus Ferber an die bisherige IWF-Chefin ging ans Eingemachte. Nachdem Lagarde zunächst ein Bekenntnis zu „innovativen Maßnahmen“ der EZB abgelegt hatte, wollte Ferber wissen, was damit gemeint sei: Die Abschaffung des Bargeldes? Helikoptergeld, also ein Geldsegen für Staaten und Bürger, um den Konsum und die Inflation anzuheizen? 

Lagarde wand sich, griff zu einem allgemeinen Ausblick und referierte über die Entscheidungen, die die Banken während der Finanzmarktkrise ergreifen mussten. „Was sind angemessene Instrumente in einer solchen Krise? Wir brauchen Kosten-Nutzen-Rechnungen“, dozierte sie. Eine klare Antwort hätte anders ausgesehen. Ferber schüttelte den Kopf. Dabei hätte Lagarde wissen können, dass Draghis Kurs die Sparer-Seele belastet und eine Diskussion ausgelöst hat, die Antworten erfordert. Nicht zuletzt deshalb hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ein – sehr umstrittenes – gesetzliches Verbot von Negativzinsen gefordert, solange Kleinsparer nicht mehr als 100.000 Euro auf dem Konto haben.

Nur einmal wurde Lagarde bei ihrem Auftritt im EU-Parlament konkret, als sie auf Draghis Zusage in der Staatsschuldenkrise angesprochen wurde, „alles zu tun, was notwendig ist, um den Euro zu retten“. „Ich hoffe wirklich, dass ich diesen Satz nie sagen muss“, antwortete die 63-Jährige. „Denn das würde bedeuten, dass andere wirtschaftspolitische Akteure nicht das tun, was sie tun müssen.“

Trotzdem brauchte Lagarde letztlich keine Minute daran zu zweifeln, dass das Europäische Parlament ihre Benennung mit großer Mehrheit bestätigen würde. Die Grünen lobten ihre Zusage, Klimaschutz als zentrale Herausforderung für die Finanzmärkte ernst zu nehmen und grüne Finanzprodukte stärker zu unterstützen. Die Sozialdemokraten hoben Lagardes Bekenntnis hervor, dass der „Eurozone weiterhin ein wichtiges fiskalpolitisches Instrument fehlt, um die europäische Geldpolitik effizienter zu gestalten“. Zuvor hatte sie jene Regierungen kritisiert, die die Zeit wirtschaftlicher Stärke nicht nutzen, um für Krisenzeiten vorzusorgen und notwendige Strukturreformen anzugehen. Der Euro sei nicht nur stabil, sondern auch so stark, dass er auf dem Finanzmarkt als Ersatzwährung für den Dollar attraktiver werden könnte. 

Radikaler Kurswechsel nicht in Sicht

Keine Frage: Dass Christine Lagarde und nicht der ebenfalls gehandelte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann in die Chefetage des EZB-Towers einzieht, empfinden gerade die Vertreter südeuropäischer Länder als Gewinn. Mehr noch: Die Befürchtungen, dass der notorische Draghi-Kritiker Weidmann dem Haus einen allzu radikalen Kurswechsel verordnet, waren übergroß. Vielleicht liegt der tiefere Grund für die Unterstützung der Französin als neue EZB-Chefin in der Tatsache begründet, dass sie eben nicht als Vertreterin Frankreichs empfunden wird – sondern aufgrund ihrer langen Jahre beim IWF als international anerkannte Finanzpolitikerin, die es immerhin geschafft hat, sich dem übermächtigen Druck des US-Präsidenten Donald Trump zu entziehen.

Eines steht jedoch fest: Leicht wird es Lagarde nicht haben. Die klassischen geldpolitischen Instrumente sind ausgereizt, das Inflationsziel ist nicht erreicht und gleichzeitig fängt die Konjunktur im Euroraum an zu schwächeln. „Es ist schwierig, die Geldpolitik noch mehr zu lockern“, sagt Schnabel. Noch schwerer sei es, sie irgendwann wieder zu straffen. Es gibt also angenehmere Rahmenbedingungen, um die Top-Position in einer Notenbank zu übernehmen.
 

Detlef Drewes (63) lebt seit 14 Jahren in Brüssel. Er ist freiberuflicher Auslandskorrespondent für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen, unter anderem die „Augsburger Allgemeine“ und die „Nürnberger Nachrichten“.

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