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Herr Nussel, überall wird der Abbau von Bürokratie gefordert, doch gefühlt scheinen die Regeln immer mehr zu werden. Fühlen Sie sich wie Sisyphos?

Nussel: Nein, denn im Gegensatz zu Sisyphos ist meine Arbeit nicht sinnlos und auch nicht vergebens. Richtig ist aber auch: Es gibt sehr viel zu tun. Bürokratieabbau ist eine Daueraufgabe. Wenn wir jetzt nicht anpacken und gegensteuern, dann wird es irgendwann schwierig, dem Problem überhaupt noch Herr zu werden. Die Staatsregierung versucht schon seit den 1970er Jahren, die Bürokratie einzudämmen, unter anderem mit Arbeitsgruppen im Landtag. Seit ich im Februar 2017 vom Freistaat zum ersten Beauftragten für Bürokratieabbau ernannt wurde, dränge ich mit meinem Team die Bürokratie schrittweise zurück. Das geschieht auch zum Schutz des Mittelstands, dem Herz unserer Wirtschaft. In Artikel 153 der bayerischen Verfassung heißt es: „Selbständige Kleinbetriebe und Mittelstandsbetriebe sind in der Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen.“ Das bedeutet: Bürokratieabbau ist Staatsauftrag. Ich habe mir daher diesen Verfassungsartikel in meinem Büro an die Wand gehängt.

Art. 153 der Verfassung des Freistaats Bayern

Die selbständigen Kleinbetriebe und Mittelstandsbetriebe in Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie sind in der Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen. Sie sind in ihren Bestrebungen, ihre wirtschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit sowie ihre Entwicklung durch genossenschaftliche Selbsthilfe zu sichern, vom Staat zu unterstützen. Der Aufstieg tüchtiger Kräfte aus nichtselbständiger Arbeit zu selbständigen Existenzen ist zu fördern.

Wo können Sie schon Erfolge vorweisen?

Nussel: In vielen Fällen liegt der Erfolg im Detail. Zusammen mit meinem Team habe ich in den vergangenen zwei Jahren hunderte Regeln quer durch alle Branchen überprüft und viele bürokratische Erleichterungen durchgesetzt. Manches ist auch noch im Fluss. Besonders wichtig ist mir jedoch eines: Auf meinen Vorschlag hin werden künftig ausgewählte staatliche Regeln gemeinsam mit betroffenen Unternehmen einem Praxis-Check unterzogen, bevor sie in Kraft treten. Das wird uns helfen, leicht verständliche und für Bürger und Wirtschaft gut anwendbare Vorschriften zu erlassen. Die erste Bewährungsprobe hat der Check schon bestanden. Ministerpräsident Markus Söder hat ein Förderprogramm für bayerische Dorfwirtschaften über 30 Millionen Euro aufgelegt. Wer teilnehmen will, muss einen Antrag stellen. Mir war wichtig, dass dieses Formular nicht am grünen Tisch entworfen wird, sondern gemeinsam mit Praktikern. Also wurden Gastronomen, Vertreter des Gaststättenverbands und Beamte aus den zuständigen Ministerien eingeladen und das Formular praktisch getestet. Schließlich sollen die Wirte nicht auf einen Juristen angewiesen sein, wenn sie 5.000 Euro Förderung beantragen. Das ist uns gelungen.

Wie lässt sich Bürokratie am besten eindämmen?

Nussel: Ich sehe zwei Ansätze: Erstens können wir Bürokratie vorbeugen, indem wir sie schon im Entstehen bekämpfen. An dieser Stelle wünsche ich mir eine Zusammenarbeit mit den bayerischen Kammern und Wirtschaftsverbänden. Sie kennen die Probleme ihrer Mitglieder sehr genau. So können wir gemeinsam die Auswirkungen einer neuen Regelung in der Praxis durchspielen und den Finger rechtzeitig in die Wunde legen. Das gilt auch für die bayerischen Bankenverbände. Zweitens können wir mit dem Praxis-Check bereits vorhandene Bürokratie wieder zurückdrängen. Abgesehen davon habe ich in Bayern natürlich die Möglichkeit, an alle Ministerien und Behörden heranzutreten und um Vorschläge für weniger Bürokratie in einer bestimmten Sache zu bitten. Diese Anfragen müssen dann zeitnah beantwortet werden.
 

Sie planen mit den bayerischen Bankenverbänden einen Runden Tisch zur Bürokratie im finanziellen Verbraucherschutz. Was erhoffen Sie sich von dem Termin?

Nussel: Ich erwarte mir von dem Gespräch Vorschläge, wie wir Finanzdienstleistungen entbürokratisieren und verbraucherfreundlich gestalten können, ohne den Verbraucherschutz an sich zu vernachlässigen. Was ist für die Kunden schwer zu verstehen? Wo gibt es Probleme bei der Umsetzung von Vorschriften? Wenn der Kunde zum Beispiel mit Aktien handeln will und der Berater die meiste Zeit des Gesprächs darauf verwenden muss, regulatorische Vorgaben einzuhalten, dann ist das nicht zielführend. Die bayerischen Bankenverbände wissen, wo bei ihren Mitgliedern der Schuh drückt, und sie haben auch schon kundenfreundliche Verbesserungsvorschläge erarbeitet. Beim Runden Tisch wollen wir die zentralen Probleme herausarbeiten und dann gemeinsam fokussiert angehen.
 

Welche bürokratischen Probleme sehen Sie im Finanzdienstleistungssektor?

Nussel: Viele Probleme gehen wohl auf europäische Richtlinien zurück. Die Banken beklagen zum Beispiel überbordende Dokumentations- und Informationspflichten, aber auch Ungerechtigkeiten gegenüber dem Einzelhandel bei der Bargeldlogistik. Handlungsbedarf gibt es auch beim Verbraucherschutz. Wenn den Verbrauchern alles haarklein auf vielen Seiten Papier erläutert werden muss und dadurch sogar ihre Freiheit eingeschränkt wird, Bankgeschäfte zu tätigen, dann halte ich das für überzogen. Viele Kunden reagieren verwirrt und verunsichert. Verbraucherschutz darf die Menschen nicht bevormunden.

„Verbraucherschutz heißt auch, dass man den Verbraucher vor zu viel Bürokratie schützt.“

Was ließe sich beim Verbraucherschutz besser machen?

Nussel: Ich wünsche mir ein Vorgehen mit Augenmaß. Wenn Kunden zum Beispiel eine Immobilie finanzieren wollen, dann erhalten sie von ihrer Bank mittlerweile einen ganzen Ordner an Dokumenten. Das liest wahrscheinlich nicht einmal ein Prozent der Betroffenen. Verbraucherschutz ist grundsätzlich wichtig und sinnvoll. Allerdings darf er die Bürger und Unternehmen nicht übermäßig belasten. Verbraucherschutz heißt für mich auch, dass man den Verbraucher vor zu viel Bürokratie schützt und nicht nur immer neue Regeln fordert.

Sie haben es selbst gesagt: Viele nationale Vorschriften gehen auf Vorgaben der EU zurück. Was können Sie da als bayerischer Beauftragter für Bürokratieabbau ausrichten?

Nussel: Ich suche zum Beispiel den engen Schulterschluss mit anderen Institutionen und Behörden. Unter anderem habe ich mit meinem Team im Berliner Kanzleramt mit Staatsminister Hendrik Hoppenstedt gesprochen. Er ist Koordinator der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung. Wenn wir ein Bürokratieproblem auf Bundesebene ausgemacht haben, dann wenden wir uns an ihn. Außerdem ist es vorgesehen, gemeinsam mit Florian Herrmann, unter anderem Staatsminister für Europaangelegenheiten, nach Brüssel zu reisen und dort mit Mitarbeitern der Bayerischen Vertretung zu sprechen, die das Gesetzgebungsverfahren in der EU intensiv begleiten. Wir wollen zusammen ein Frühwarnsystem installieren, um bei Brüsseler Initiativen rechtzeitig auf bürokratische Ungetüme hinweisen zu können. Das wäre zum Beispiel mit einem Praxis-Check möglich. Auch die Bankenaufsicht wäre für mich ein Ansprechpartner. In der Regel wird das sogar positiv aufgenommen, wenn ich Kontakt aufnehme. Denn der Druck wächst.

„Von allen Verbänden und Kammern höre ich, dass die Probleme ihrer Mitglieder zu mehr als 50 Prozent auf zu viel Bürokratie zurückgehen.“

Inwiefern?

Nussel: Von allen Verbänden und Kammern höre ich, dass die Probleme ihrer Mitglieder zu mehr als 50 Prozent einem Übermaß an Bürokratie geschuldet sind. Das betrifft alle Branchen und Unternehmensgrößen. Da gibt es natürlich eine gewisse Erwartungshaltung. Insofern ist die Unterstützung durch die Verbände für mich sehr wichtig, denn dann spüren auch die Gesprächspartner, dass Handlungsbedarf besteht. In der Politik setze ich auf einen parteiübergreifenden Konsens, um Bürokratie zu vermeiden und abzubauen. Im Landtag habe ich dazu jede Fraktion angeschrieben.
 

Viel Bürokratie entsteht auch auf nachgelagerten Ebenen. Wie gehen Sie dieses Problem an?

Nussel: In der Tat wird bei bürokratischen Problemen gerne auf die EU verwiesen. Aber wenn man dann genauer hinschaut, dann haben der Bund oder die Länder oftmals noch eine Schippe draufgelegt. Da schauen wir genau hin, ob man das nicht auch anders regeln kann. Wir müssen nicht nur die Politik, sondern auch die Ministerien und Behörden für das Thema sensibilisieren, bis hinunter auf die kommunale Ebene. Das Ordnungsrecht war immer eine Stärke von Deutschland, weil es für geregelte Verhältnisse sorgt, aber wir müssen trotzdem die überbordende Bürokratie zurückdrängen. Weil sich die Behörden gegen alles und jeden absichern wollen, sind manche Verordnungen in der Praxis kaum noch umsetzbar. Das betrifft auch das Ehrenamt. Da geht es um ganz alltägliche Sachen wie etwa um die Organisation von Veranstaltungen bei Vereinen. Ich kenne Kreisbehörden, die übermitteln dem Veranstalter 30 Seiten mit Auflagen und Ausführungsbestimmungen. Irgendwann geben die Organisatoren auf. Zu viele Regeln überfordern die Menschen.

„Mit gesundem Menschenverstand kommt man weiter – auch beim Abbau von Bürokratie.“

Wie erklären Sie sich dieses Verhalten, bestehende Gesetze und Vorschriften ohne Not zu verschärfen?

Nussel: Das hat mit der Angst vor Konsequenzen zu tun. Gerade bei Behörden gibt es die Tendenz, lieber einen Satz zu viel zu schreiben als einen zu wenig. Dann sind sie aus der Verantwortung, falls etwas passiert. Das gilt für Vereinsfeste genauso wie für die Bankenregulatorik. Dafür haben dann andere ein Problem. Selbst ich wurde schon gefragt, ob ich mich nicht davor fürchte, eine Regel abzuschaffen, und dann geschieht genau deshalb ein Unglück. Aber das ist der falsche Ansatz. Wenn ich aus Angst Politik mache, dann bin ich fehl am Platz. Mit gesundem Menschenverstand kommt man weiter – auch beim Abbau von Bürokratie.
 

Offenbar ist der gesunde Menschenverstand nicht immer maßgebend bei der Regelsetzung. Warum ist es so schwer, vor allem beim Verbraucherschutz Maß und Mitte zu finden?

Nussel: Das hängt mit unserer Wohlstandsgesellschaft zusammen und mit der Mentalität, für alles einen Schuldigen finden zu wollen, wenn mal etwas schlecht läuft. Immer weniger Menschen sind bereit, selbst Verantwortung zu übernehmen oder die Konsequenzen für eigene Entscheidungen zu tragen. Lieber wird geklagt. Früher agierten die Menschen hemdsärmeliger, was auch nicht immer gut war. Heute muss dagegen alles im Leben geregelt werden. Das überträgt sich natürlich auf die Politik. Vor einigen Wochen ist zum Beispiel bei mir in der Region der Strom ausgefallen. Nach fünf Minuten haben sich die ersten Kommunalpolitiker bei mir gemeldet: Wer ist schuld? Da wurde nicht gefragt, was passiert ist, sondern da wurde ein Schuldiger gesucht, weil fünf Minuten der Strom weg war. Nach 25 Minuten gingen die Lichter wieder an. Hinterher hat sich herausgestellt, dass ein Marder im Umspannwerk einen Kurzschluss verursacht hat. Eigentlich hätte man die Mitarbeiter loben sollen, die das Problem in so kurzer Zeit behoben haben. Kein Wunder, dass sich jeder absichern will und hinter Vorschriften versteckt.

Das lässt einen beinahe ratlos zurück…

Nussel: Ich habe bisher auch keine bessere Lösung gefunden, als die Themen einzeln aufzugreifen und nach Mustern zu suchen. Wenn sich zum Beispiel ein Gastwirt über unverhältnismäßige Kontrollen oder Dokumentationspflichten beklagt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass seine Kollegen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es gibt so viele Punkte, wo man ansetzen kann: Dazu gehören auch das ausufernde Gutachterwesen oder die Vielzahl an DIN-Normen. Teilweise werden aus wirtschaftlichen Interessen Standards gesetzt, damit das eigene Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil hat. Auch das wollen wir auf den Prüfstand stellen. Dabei setzen wir uns mit den Dingen im Detail auseinander, um dann genaue Änderungsvorschläge zu machen. Mit Aktionismus kommen wir jedenfalls nicht weiter.

„In jeder Branche gibt es schwarze Schafe. Aber ihr Anteil an der Gesamtheit ist minimal. Deshalb plädiere ich für einen Verbraucherschutz mit Maß und Ziel.“

Im Verbraucherschutz gibt es verschiedene Zielbilder. Einerseits den mündigen Bürger, der frei entscheiden kann, andererseits den unmündigen Bürger, der vor sich selbst geschützt werden muss. Gibt es eine ideale Mitte?

Nussel: 100 Prozent Sicherheit gibt es nicht, das ist eine Illusion. In jeder Branche gibt es schwarze Schafe. Aber ihr Anteil an der Gesamtheit ist minimal. Im Moment versucht der Gesetzgeber, mit möglichst viel Regulatorik auch das letzte schwarze Schaf aus dem Verkehr zu ziehen. Aber das wird nicht funktionieren. Nehmen wir die Pflege als Beispiel. Von den rund 3.200 Pflegeheimen in Bayern werden rund 30 bis 40 regelmäßig auffällig, weil sie zum Beispiel zu wenig Personal einsetzen. Das ist rund ein Prozent. Betroffen sind zudem fast immer dieselben Träger. Das heißt im Umkehrschluss: Wer versucht, dieses eine Prozent zu disziplinieren, macht den anderen 99 Prozent das Leben sehr schwer. Das gilt auch für die Bankenbranche. Deshalb plädiere ich für einen Verbraucherschutz mit Maß und Ziel.
 

Das klingt alles nach sehr viel Arbeit. Wie viel Zeit frisst Ihre Tätigkeit als Beauftragter für Bürokratieabbau?

Nussel: In der Summe nimmt der Bürokratieabbau mittlerweile mehr als die Hälfte meiner Abgeordnetentätigkeit ein. Ich könnte mich aber auch locker die ganze Woche mit dem Thema beschäftigen. Gott sei Dank habe ich ein Team, das mich sehr gut unterstützt. Denn die Arbeit wird uns nie ausgehen.

Herr Nussel, vielen Dank für das Interview!
 

Walter Nussel (53) gehört dem Landtag seit Oktober 2013 an. Der gelernte Landwirt vertritt den Stimmkreis Erlangen-Höchstadt. Im Februar 2017 wurde er zum ersten Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für Bürokratieabbau ernannt. Dieses Amt führt er in der neuen Legislaturperiode weiter.

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