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Herr Schnappauf, was hat Sie angetrieben, vor der Küste Libyens nach Schiffbrüchigen zu suchen und sie zu retten?

Jürgen Schnappauf: Ich liebe das Mittelmeer und unternehme dort regelmäßig Segeltörns. Den Gedanken, dass in diesem Meer Jahr für Jahr Abertausende Menschen auf der Flucht nach Europa ertrinken, kann ich nicht ertragen. Deshalb wollte ich unbedingt helfen.
 

Sie waren auf der „Sea-Eye“, einem Schiff des gleichnamigen Vereins aus Regensburg. Wie war das Leben an Bord?

Schnappauf: Sehr spartanisch. Die Crew bestand aus acht Personen. Sechs Mitglieder kamen aus Bayern, zwei waren junge Reiseführer mit Afrika-Erfahrung aus Köln. Wir haben während der Zeit an Bord auf engstem Raum zusammengelebt:  Die Kajüte war für uns alle Schlafraum, Aufenthaltsraum und Speisesaal zugleich. Die Brücke war rund um die Uhr besetzt, sodass immer ein Teil der Crew wach war. Weil ich für meine Segeltörns die entsprechenden Funkscheine gemacht habe, habe ich während meiner Wachdienste sehr oft die Kommunikation via Funk oder Satellitentelefon übernommen.

Welche Erwartungen hatten Sie, als Sie an Bord gingen?

Schnappauf: Ich hatte schon ein mulmiges Gefühl, weil ich nicht wusste, was auf mich zukommt. Werden wir Tote sehen? Werde ich alles, was ich an Bord erlebe, emotional verarbeiten können? Solche Fragen sind mir durch den Kopf gegangen. Am meisten Angst hatte ich vor der libyschen Küstenwache. Sie ist bekannt für ihre Repressalien gegenüber internationalen Rettungsschiffen. Bei solchen Attacken sind auch schon Schüsse gefallen. Gott sei Dank hatten wir aber während unserer Mission keinerlei Kontakt mit der libyschen Marine.

Retter aus Regensburg

Der Verein „Sea-Eye“ aus Regensburg hat sich zum Ziel gesetzt, Schiffbrüchige zu retten, die vor der libyschen Küste in Seenot geraten sind. Dazu hat er zwei Schiffe erworben, die „Sea-Eye“ und die „Seefuchs“. Die Schiffbrüchigen werden mit Rettungswesten und Wasser erstversorgt. Schwerverletzte können an Bord in einer Krankenstation behandelt werden. Gleichzeitig sendet die Besatzung einen SOS-Notruf an die Seenotrettungsleitstelle in Rom, die sich um die weitere Rettung kümmert. Die Crews beider Schiffe haben nach Angaben des Vereins rund 13.000 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Die Helfer arbeiten ehrenamtlich ohne Bezahlung.

www.sea-eye.org

Sie sind Vorstandsvorsitzender der Raiffeisenbank Floß. Was haben die Kollegen zu Ihren Plänen gesagt?

Schnappauf: Ich habe im Vorfeld alle Mitarbeiter informiert. Besonders intensiv habe ich mich natürlich mit meinem Vorstandskollegen Josef Völkl und dem Aufsichtsrat besprochen. Sie standen meinem Vorhaben aufgeschlossen gegenüber. Dafür bin ich sehr dankbar. Die Mitarbeiter zeigten Verständnis und erkundigten sich regelmäßig bei meiner Frau, wie es mir geht. Und alle freuten sich, als ich wieder gesund zurück war. Dass ich in einer sehr arbeitsintensiven Zeit drei Wochen frei nehmen durfte, ist nicht selbstverständlich. Unter anderem feiert unsere Bank 2018 ihr 125-jähriges Bestehen mit einem Jubiläumsjahr. Josef Völkl hat mir jedoch gesagt, dass er die Mehrarbeit während meiner Abwesenheit gerne in Kauf nimmt. Das sei sein Beitrag, um mein ehrenamtliches Engagement zu unterstützen.
 

Sie haben ehrenamtlich auf der „Sea-Eye“ gearbeitet und für diese Zeit regulären Urlaub genommen. Außerdem haben sie alle Auslagen wie die Flüge nach Malta und zurück selbst übernommen. Welchen Stellenwert hat das Ehrenamt in der Raiffeisenbank Floß?

Schnappauf: Einen sehr hohen. Wir unterstützen alle Mitarbeiter, die ehrenamtlich tätig sind. Ein Beispiel: Ein junger Mitarbeiter besucht nächstes Jahr die Feuerwehrschule. Dafür stellen wir ihn für zwei Wochen von der Arbeit frei. Er bekommt auch für jeden Einsatz vor Ort frei. Das gilt für alle Ehrenämter. Raiffeisens Hilfsvereine, aus denen später die Genossenschaftsbanken erwachsen sind, waren dem Gemeinwohl verpflichtet und verfolgten das Ziel, Not zu lindern. Das sollten wir uns auch heute noch zu Herzen nehmen.

Die „Sea-Eye“ läuft zu einer Rettungsmission vor der Küste Libyens aus. Foto: www.sea-eye.org
Die „Sea-Eye“ (re.) hat noch ein Schwesterschiff, die „Seefuchs“ (li.). Beide sind hochseetaugliche ehemalige Fischkutter, die der Verein „Sea-Eye“ für die Rettungsmissionen im Mittelmeer erworben hat. Alle Fotos: Jürgen Schnappauf
Der Kurs der „Sea-Eye“ auf der Suche nach dem Flüchtlingsboot.
Das Flüchtlingsboot (rechts oben im Bild) wurde gesichtet, das Beiboot der „Sea-Eye“ wird zu Wasser gelassen.
Die Helfer der „Sea-Eye“ übergeben als Erstes Rettungswesten und Wasser an die Flüchtlinge.
Anschließend werden die Flüchtlinge an Bord der „Sea-Eye“ gebracht.
Die Fahrt in Richtung Lampedusa verläuft stürmisch. Die „Sea-Eye“ muss sich durch bis zu vier Meter hohe Wellen kämpfen.
Geschafft! Übergabe der Schiffbrüchigen an die italienische Küstenwache vor der Insel Lampedusa.
Ob Jürgen Schnappauf (li.) nochmal an so einer Rettungsmission teilnimmt, weiß er noch nicht. „So viele blaue Flecken wie nach dem Sturm hatte ich noch nie“, sagt er.

Wie viele Flüchtlinge hat die „Sea-Eye“ aufgenommen, während Sie an Bord waren?

Schnappauf: Zwölf. Neun Männer sowie eine Mutter mit ihren beiden Kindern, ein etwa sechsjähriges Mädchen und ein etwa zwölfjähriger Junge. Dass wir nur dieses eine Flüchtlingsboot gesichtet haben, dürfte auch am Wetter in unserem Operationsgebiet gelegen haben. Bei bestimmten Windverhältnissen legen die Boote gar nicht ab, weil sie sonst wieder zurück an die Küste getrieben werden.
 

Wie lief die Rettung ab?

Schnappauf: Ich war gerade auf Wache, als wir um 2:30 Uhr morgens von der Seenotrettungsleitstelle in Rom per Funk die Nachricht bekommen haben, dass in etwa 18 Seemeilen Entfernung zu unserer Position ein Flüchtlingsboot vermutet wird. Eine Seemeile entspricht 1.852 Metern. Also haben wir die Maschine gestartet und sind in Richtung der angegebenen Koordinaten gefahren. Im Suchgebiet hat dann die gesamte Crew das Meer mit Ferngläsern nach dem Flüchtlingsboot abgesucht. Das war noch vor Sonnenaufgang. Nach einiger Zeit haben wir tatsächlich das Boot entdeckt – circa fünf Meter lang, offen und absolut nicht hochseetauglich. Die Rettung lief dann so ab, wie wir es die ganze Zeit geübt hatten: Zwei Crewmitglieder sind mit unserem Beiboot zu den Flüchtlingen gefahren und haben sie mit Rettungswesten und Wasser versorgt. Dann haben wir je vier Personen auf einmal abgeborgen und auf die „Sea-Eye“ gebracht. Dort wurden sie auf Waffen kontrolliert und medizinisch untersucht. Bei der Frau mussten wir eine Verätzung am Bein behandeln. Sie saß in der Mitte des Bootes – dort, wo sich ausgelaufenes Benzin und das Salzwasser zu einem äußerst ätzenden Gemisch verbinden. Das Flüchtlingsboot haben wir seeuntauglich gemacht und sich selbst überlassen. Es ist dann auch bald gesunken.
 

Wie haben die Flüchtlinge reagiert, als sie gerettet wurden?

Schnappauf: Sie waren sehr diszipliniert und haben auch die Rettungswesten selbst angezogen, die wir ihnen gegeben haben. Die Männer haben sich wenig anmerken lassen, aber die Frau war einfach nur froh, dass sie die Höllenfahrt überlebt hat – das hat man ihr deutlich angesehen.

„Die Flüchtlinge wären nach kurzer Zeit verdurstet oder wegen des aufkommenden Sturms ertrunken.“

Hätten die Flüchtlinge auch ohne die „Sea-Eye“ eine Chance gehabt, Europa zu erreichen?

Schnappauf: Ganz klar nein. Als wir sie entdeckt haben, hatten sie noch drei Kanister Benzin an Bord. Damit wären sie vielleicht noch 20 Seemeilen weit gekommen – dann wäre ihnen mitten auf dem offenen Meer der Sprit ausgegangen. Abgesehen davon hatten sie außer sechs 0,5 Liter-Flaschen kein Wasser dabei. Sie wären nach kurzer Zeit verdurstet oder wegen des aufkommenden Sturms ertrunken. Sie hätten keine Chance gehabt.
 

Wie ging es dann weiter?

Schnappauf: Als alle an Bord waren, haben wir bei der Seenotrettungsleitstelle in Rom nachgefragt, wohin wir die Flüchtlinge bringen sollen. Von dort haben wir die Anweisung erhalten, die Nacht vor Ort abzuwarten. Also haben wir für die Flüchtlinge gekocht und sie versorgt. In der Zeit wurde auch das Wetter immer schlechter. Am nächsten Tag haben wir die Anweisung bekommen, nach Norden in Richtung Sizilien zu fahren. Dafür hätten wir bei hohem Seegang vier Tage gegen den Wind fahren müssen, deshalb haben wir um eine Alternative gebeten. Malta hat uns dann verboten, mit Flüchtlingen in ihr Seegebiet einzufahren. Schließlich kam die Ansage, die Insel Lampedusa anzusteuern. 48 Stunden lang sind wir gegen den Sturm gefahren und haben uns durch vier Meter hohe Wellen gekämpft. Das war heftig. Alle Flüchtlinge wurden seekrank und haben sich unter Deck übergeben. Zwei von ihnen haben sogar Infusionen benötigt, weil sie nichts mehr aufnehmen konnten. Immerhin war die italienische Küstenwache sehr kooperativ, als sie vor Lampedusa die Flüchtlinge auf ihr Schiff übernommen hat. Kurz gesagt, die Rettung war einfach, die Übergabe an die Behörden harte Arbeit.

Hat Sie die Rettung emotional berührt?

Schnappauf: Die Flüchtlinge haben uns von katastrophalen Verhältnissen in Libyen berichtet. Nach ihren Aussagen herrschen dort Anarchie und das Recht des Stärkeren. Sie erzählten uns von mutwilligen Erschießungen auf offener Straße und Vergewaltigungen. Die Libyer würden von den Kriegsherren wie Sklaven gehalten. Wir waren alle von den Berichten geschockt, obwohl ich versucht habe, diese Geschichten nicht an mich heranzulassen. Als die Flüchtlinge von Bord gingen, stand ich auf der Brücke. Die Frau hat sich noch einmal umgedreht und „Thank you, thank you“ gerufen. Das hat mich dann schon berührt.
 

Werden Sie wieder an einer Rettungsmission von „Sea-Eye“ teilnehmen?

Schnappauf: Die Mission war sehr anstrengend. Während des Sturms hatte unser Schiff bis zu 45 Grad Schlagseite in jeder Richtung. Da gerät alles ins Rutschen. So viele blaue Flecken auf einmal hatte ich noch nie. Jetzt sind erst einmal wieder andere Dinge wichtig. Dazu gehören meine Familie und meine Arbeit in der Raiffeisenbank Floß. Für das 125-jährige Jubiläum gibt es noch viel zu organisieren.
 

Herr Schnappauf, vielen Dank für das Gespräch!

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