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Europa will seine Kapitalmärkte tiefer integrieren. Mit der Europäischen Spar- und Investitionsunion (SIU) verbindet sich die Hoffnung, Unternehmen neue Finanzierungsquellen zu erschließen, die Abhängigkeit vom Bankkredit zu verringern und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Diese Zielsetzung klingt auf den ersten Blick plausibel – doch sie verkennt die Realität, gerade in Deutschland und insbesondere im Mittelstand. Als Genossenschaftsverband Bayern sehen wir die Diskussion daher differenziert: Wir sind nicht gegen eine Stärkung des EU-Kapitalmarktes. Aber wir warnen davor, sie als Allheilmittel für die Finanzierung der Wirtschaft darzustellen. Die SIU ist mehr als ein wirtschaftliches Vorhaben – sie ist auch ein politisches Symbol. Brüssel will zeigen, dass Europa handlungsfähig ist und eigene Antworten auf die globalen Mitbewerber findet. Das ist verständlich, darf aber nicht dazu führen, dass man das Projekt überhöht. Politische Machbarkeit und wirtschaftliche Realität fallen allzu oft auseinander. Eine nüchterne Betrachtung ist deshalb wichtiger als große Worte.

Ein Projekt mit langer Vorgeschichte

Die Idee einer europäischen Kapitalmarktunion ist nicht neu. Schon nach der Finanzkrise wurde sie als Hebel gesehen, um die Abhängigkeit Europas von Banken zu verringern und mehr institutionelles Kapital zu mobilisieren. Spätestens mit dem Brexit gewann das Thema an Dynamik: Der wichtigste Kapitalmarkt Europas liegt nun außerhalb der EU. Die Kommission reagierte darauf mit der Forderung nach einem tiefen, integrierten Binnenmarkt für Kapital. Dahinter steht auch der Gedanke, die gewaltigen Investitionen für Klimaschutz und Digitalisierung über Kapitalmärkte zu finanzieren.

Das klingt ambitioniert – doch der Blick auf die Realwirtschaft zeigt: Für die meisten kleinen und mittleren Unternehmen ist dies keine Lösung ihrer Finanzierungsfragen.

Die Realität der Mittelstandsfinanzierung

Der deutsche Mittelstand – das Rückgrat unserer Wirtschaft – finanziert sich seit jeher überwiegend über Bankkredite. Diese enge Beziehung zwischen Unternehmerinnen und Unternehmern und ihren Hausbanken hat sich über Jahrzehnte bewährt. Sie schafft Vertrauen, ermöglicht passgenaue Lösungen und berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse der Betriebe, von der kleinen Handwerksfirma bis zum international tätigen Familienunternehmen.

In der Praxis spielen Kapitalmarktinstrumente wie Anleihen oder komplexe Verbriefungen für mittelständische Unternehmen kaum eine Rolle. Dafür sind die Transaktionskosten zu hoch, die Anforderungen zu komplex und die Volumina zu gering. Ein plastisches Beispiel verdeutlicht das Problem: Ein bayerischer Metallverarbeiter mit 80 Beschäftigten möchte eine neue Produktionshalle errichten. Der Finanzierungsbedarf liegt bei fünf Millionen Euro. Für den Kapitalmarkt ist dieser Investitionsbetrag viel zu klein – allein die Erstellung eines Wertpapierprospekts würde einen sechsstelligen Betrag verschlingen. Der Betrieb wendet sich daher an seine Genossenschaftsbank vor Ort, die das Geschäft versteht und unbürokratisch begleiten kann. Dieses Muster wiederholt sich täglich tausendfach in Deutschland – und zeigt, warum die Kapitalmarktunion am Kern des Finanzierungsbedarfs vorbeigeht.

Die Erwartung, dass sich dies durch die Kapitalmarktunion grundlegend ändern wird, ist unrealistisch. Auch die bestausgestaltete europäische Kapitalmarktunion wird die Finanzierungsmuster mittelständischer Betriebe nicht umkrempeln.

Symbolpolitik statt Praxisbezug

Hier zeigt sich ein Widerspruch in der europäischen Politik: Einerseits werden neue Finanzierungsinstrumente gepriesen, weil Bankkredite angeblich zu aufwendig oder zu schwerfällig seien. Andererseits ist es die Politik selbst, die durch immer neue Regulierungen genau diese Kreditfinanzierung massiv erschwert hat. Von Basel III über umfangreiche Meldepflichten bis hin zu ESG-Vorgaben – die Banken wurden systematisch mit Bürokratie überzogen.

Dass ausgerechnet Brüssel nun die vermeintliche Alternative über die Kapitalmärkte anpreist, wirkt widersprüchlich. Man könnte zugespitzt sagen: Zuerst macht man den Bankkredit zum Hindernislauf, dann verweist man die Unternehmen auf Umwege, die sie gar nicht gehen wollen.

Ein Blick in die USA zeigt, dass Kapitalmärkte dort tatsächlich eine größere Rolle spielen. Doch der Vergleich hinkt: Der amerikanische Markt ist einheitlich, die Regulierung schlanker, die Investorenbasis breiter. In Europa hingegen haben wir 27 unterschiedliche Rechtssysteme, Sprachen und Steuerordnungen. Diese Vielfalt ist kulturell ein Gewinn, ökonomisch aber ein Hemmnis. Die Kapitalmarktunion wird daran nichts Grundsätzliches ändern können – Europas Wirtschaft bleibt in der Realität ein Flickenteppich.

Hinzu kommt: Auch auf der Investorenseite gibt es Unterschiede. In Deutschland sind institutionelle Investoren wie Pensionsfonds oder Versicherungen traditionell vorsichtiger und stärker reguliert als etwa in den USA. Das macht es schwieriger, privates Kapital in großem Umfang zu mobilisieren. Selbst wenn die Kapitalmarktunion einige Hürden abbaut, wird sie nicht automatisch dafür sorgen, dass plötzlich Milliarden in mittelständische Betriebe fließen.

Der Nutzen einer Kapitalmarktunion – wo er liegt

Das heißt nicht, dass wir die Kapitalmarktunion grundsätzlich ablehnen. Für große Unternehmen mit internationaler Ausrichtung können vereinheitlichte Regeln, tiefere Kapitalmärkte und mehr Investitionsmöglichkeiten durchaus Vorteile bringen. Auch für die Finanzierung von Zukunftstechnologien oder Infrastrukturprojekten kann ein besser funktionierender europäischer Kapitalmarkt hilfreich sein. Er kann privates Kapital aktivieren und attraktive Anlageoptionen eröffnen.

Doch diese Potenziale dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie für die breite Masse der mittelständischen Betriebe wenig Relevanz haben. Wer also die Kapitalmarktunion als Kernstück einer europäischen Wachstumsstrategie darstellt, setzt auf einseitige Akzente.

Bürokratie abbauen statt neue Komplexität schaffen

Wir plädieren für einen nüchternen Blick: Wichtiger als neue Kapitalmarktinstrumente ist der Abbau unnötiger Regulierung. Kreditinstitute und ihre Kundinnen und Kunden leiden seit Jahren unter einer Überregulierung, die Ressourcen bindet, ohne den Verbraucherschutz messbar zu verbessern. Jede Stunde, die Bankmitarbeiter mit Berichts- und Dokumentationspflichten verbringen, fehlt für die Beratung der (Unternehmens-)Kunden. Jeder Euro, der in regulatorische Prozesse fließt, macht Kredite teurer.

Besonders augenfällig wird dies beim Thema Nachhaltigkeitsberichterstattung. Schon heute müssen Banken und Unternehmen Tausende ESG-Datenpunkte erfassen, bewerten und weiterleiten. Das kostet Zeit, Geld und Personal – ohne dass dadurch automatisch ein „grüneres“ Projekt entsteht. Es wäre widersinnig, auf der einen Seite solche bürokratischen Hürden hochzuziehen und zugleich daran zu arbeiten, dass Unternehmen in großem Stil auf Kapitalmärkte ausweichen.

Es ist daher zu begrüßen, dass die Deutsche Bundesbank und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als maßgebliche nationale Regulatoren nun umfangreiche Vorschläge zum Abbau von Bürokratie und der Vereinfachung der Regulatorik vorgelegt haben. Dies ist grundsätzlich sinnvoll und notwendig. Letztlich erleichtert es auch die Kreditvergabe – und kommt damit einem breiteren Teil der Wirtschaft zugute als ein europäischer Kapitalmarkt.

Was wirklich zählt

Wenn die Politik ernsthaft die Finanzierungskraft der Wirtschaft stärken will, muss sie den Bankkredit stärken und ihn von überflüssiger Last befreien. Denn für den Mittelstand gilt: Der persönliche Draht zur Hausbank, das Verständnis für regionale Märkte und die Fähigkeit, schnell zu entscheiden, sind durch kein noch so ambitioniertes Kapitalmarktprojekt zu ersetzen.

Eine kluge Politik sollte daher beides tun: dort Kapitalmarktintegration vorantreiben, wo es tatsächlich einen Mehrwert gibt – und gleichzeitig die Kreditfinanzierung entlasten, die für Millionen Betriebe entscheidend bleibt. Funktionieren wird die SIU kaum, ohne weitere Erleichterungen bei Verbriefungen sowie einer Förderung der Aktienkultur, zum Beispiel durch steuerliche Vorteile. Sonst wird die schöne neue Welt eines integrierten europäischen Kapitalmarkts auf Dauer nur Wunschdenken bleiben.

Fazit

Europa braucht Wachstum, Investitionen und innovative Unternehmen. Die Kapitalmarktunion kann dazu einen Beitrag leisten – aber sie ist kein Allheilmittel. Für den deutschen Mittelstand bleibt der Bankkredit die zentrale Finanzierungsquelle, heute wie morgen. Politik sollte diese Realität anerkennen, statt Illusionen zu nähren.

Ehrlichkeit ist hier der beste Ratgeber. Es wäre unredlich, der mittelständischen Wirtschaft weiszumachen, dass die Kapitalmarktunion ihre Finanzierungsprobleme löst. Ebenso wenig wäre es richtig, den Bankkredit schlechtzureden, nur weil er politisch nicht „modern“ genug wirkt. Der Mittelstand braucht Verlässlichkeit, keine Illusionen. Politik, die diesen Unterschied versteht, handelt im Sinne der Wirtschaft – und letztlich auch im Sinne Europas.

Unser Appell lautet daher: Gestalten wir die Kapitalmarktunion dort, wo sie tatsächlich Nutzen bringt – für große Unternehmen, für internationale Investoren, für bestimmte Zukunftsprojekte. Gleichzeitig aber müssen wir die Kreditfinanzierung im Mittelstand stärken, indem wir Regulierung abbauen und Banken Freiräume zurückgeben. Nur so entsteht ein Finanzsystem, das Europa wirklich voranbringt: stark, verlässlich und nah an den Bedürfnissen der Wirtschaft.

Stefan Müller ist Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern.
Zu seinem Profil auf LinkedIn.

Dieser Beitrag ist zuerst am 15. Oktober 2025 in der BKR – Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (Ausgabe 20/2025) erschienen.

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