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Der Goldene Saal im Rathaus der Stadt Augsburg ist ein Prunkstück der Spätrenaissance. Man könnte dort Basketball spielen, so groß ist der Raum. Die vergoldete Saaldecke in 14 Metern Höhe, die bemalten Wände sowie der Marmorfußboden zeugen vom Wohlstand der Fuggerstadt in vergangenen Zeiten.

Die Stadt und ihr Behindertenbeirat haben diesen Ort ganz bewusst gewählt, um die soziale Produktivgenossenschaft MutMacherMenschen gemeinnützige eG mit dem Prädikat „besonders behindertenfreundlich“ auszuzeichnen. „Die Ehrung findet völlig zu Recht im Glanz des Goldenen Saales statt“, bemerkte Kurt Gribl bei der Festveranstaltung. Der Arbeitsmarkt sei hart und nehme keine Rücksicht auf Menschen mit psychischen Problemen, so der Oberbürgermeister der Stadt Augsburg. Deswegen sei es wichtig, dass es „Macher“ gebe, die sich um diese Menschen kümmern. „Die MutMacherMenschen tun der Stadt gut“, so der Rathauschef.

Die Augsburger Genossenschaft wurde 2014 unter dem Namen Lehmbau-Manufaktur gegründet und 2017 in MutMacherMenschen umbenannt. Sie bietet Menschen in oder nach einer psychischen Krise einen behüteten Arbeitsplatz, um sie wieder auf den regulären Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die Rechtsform eG wählten die Gründer, weil die Betroffenen gleichberechtigt entscheiden und die Genossenschaft mitgestalten sollten. „Das war uns sehr wichtig“, sagt die Geschäftsführende Vorständin Edith Almer. Heute haben die MutMacherMenschen rund 30 Mitglieder, darunter vor allem aktuelle und ehemalige Mitarbeiter, aber auch Privatpersonen und Firmeninhaber, die das Projekt unterstützen wollen.

Weil sich die anfangs hergestellten Pizzaöfen aus Lehm nicht so gut verkauften, verlegte sich die gemeinnützige Genossenschaft auf die Herstellung hochwertiger Holzprodukte. Die Mitarbeiter fertigen unter anderem Wildbienenhotels, Futterhäuschen und Nistkästen für Vögel, aber auch Igelburgen und Cajóns (Kistentrommeln). Bei allen Produkten verwenden sie ökologische und regionale Materialien.

„Auch Menschen mit Behinderung bringen Leistung. Das dürfen wir ihnen nicht absprechen.“

Die Redner im Goldenen Saal übertrafen sich gegenseitig mit Lob für die Genossenschaft. „Auch für Menschen mit einer psychischen Behinderung ist es ganz wichtig, aus einem behüteten Umfeld herauszukommen und an der Gesellschaft sowie am normalen Arbeitsleben teilzuhaben. Dafür leisten die MutMacherMenschen hervorragende Inklusionsarbeit“, sagte Claudia Nickl, Vorsitzende des Behindertenbeirats und Behindertenbeauftragte der Stadt Augsburg.

„Ein dickes Vergelt’s Gott für ihr riesiges Engagement“, bedankte sich auch Michael Höhenberger bei der Genossenschaft. Der Amtschef des Bayerischen Sozialministeriums vertrat Ministerin Kerstin Schreyer, die kurzfristig verhindert war. Höhenberger betonte, wie wichtig Inklusion sei. „Unsere Leistungsgesellschaft spielt weltweit ganz vorne mit, aber wir dürfen dabei die Menschen mit Behinderung nicht vergessen. Auch sie bringen Leistung. Das dürfen wir ihnen nicht absprechen.“ Deshalb hat sein Ministerium die Gründung der MutMacherMenschen im Rahmen der Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften mit einer Anschubfinanzierung in Höhe von 30.000 Euro bezuschusst (siehe Kasten).

Bis zu 30.000 Euro Anschubfinanzierung

Im Rahmen der „Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften“ gewährt das bayerische Sozialministerium Sozialgenossenschaften, die das Potenzial von Genossenschaften für den sozialen Bereich aufzeigen können, eine Anschubfinanzierung von bis zu 30.000 Euro. Zudem bietet das Ministerium zusammen mit dem Expertenrat Sozialgenossenschaften einen Ratgeber zur Gründung mit praxisnahen Hilfen an. Er kann unter sozialgenossenschaften[at]stmas.bayern.de bestellt werden. Im „Profil“-Interview äußert sich die bayerische Sozialministerin Kerstin Schreyer, warum sie Sozialgenossenschaften unterstützt. Auch der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) bietet Genossenschaftsgründern ein umfassendes Unterstützungsangebot an. So helfen die GVB-Gründungsberater bei der Formulierung der Satzung genauso wie bei der Ausarbeitung des Geschäftsplans. Weitere Infos gibt es auf der GVB-Webseite.

28 Mitarbeiter beschäftigte die Genossenschaft im Verlauf des vergangenen Jahres in ihrer Manufaktur, im Moment sind es 20. Sie alle haben oder hatten mit psychischen Krisen wie Depressionen, Psychosen, Schizophrenie, bipolaren Störungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen zu kämpfen. Durch die Arbeit bei den MutMacherMenschen schaffen sie es, wieder Struktur in ihren Alltag zu bekommen und sozialen Anschluss zu finden. Im Projekt „Begleitung auf den ersten Arbeitsmarkt“ werden aktuell 28 Menschen betreut, davon befinden sich 18 in einem Beschäftigungsverhältnis mit der Genossenschaft.

So wie Patrick. Er arbeitete als Feinblechner, musste seinen Job aber wegen seiner Schizophrenie-Erkrankung aufgeben. Seine Krankheitsgeschichte beschreibt der 42-Jährige rückblickend als „Tal der Tränen“. „Das war eine schwierige Zeit mit vielen Klinikaufenthalten. Das Zwischenmenschliche war wie abgestorben und die Gedanken von Traurigkeit erfüllt.“ Ohne Job fehlte die berufliche Perspektive, die vielen Menschen neben dem privaten Umfeld Halt im Leben gibt.

Irgendwann hörte Patrick von den MutMacherMenschen. Nach einiger Zeit fand er den Mut, in der Werkstatt vorzusprechen. „Ich wollte nicht komplett absinken.“ Mit Erfolg: Dank der Genossenschaft fällt es ihm schon viel leichter, seinen Tag zu gestalten. Dazu gehören so grundlegende Dinge wie morgens aufzustehen und sich für den Tag fertig zu machen. „Ich schaue, dass ich pünktlich bin und meinen Job gut mache. Das und die Kollegen helfen mir dabei, mich zu stabilisieren.“

Neustart ins Leben: Die stellvertretende Vorsitzende der MutMacherMenschen eG, Ruth Häußler (Mitte), mit den beiden Mitarbeitern Susanne und Patrick. Foto: Christner

Festakt (v. li.): Claudia Nickl, Vorsitzende Behindertenbeirat, Stefan Kiefer, 3. Bürgermeister, Edith Almer, MutMacherMenschen, Oberbürgermeister Kurt Gribl, Mitarbeiterin Susanne, Maria Boge-Diecker, Hubert Schmucker, alle MutMacherMenschen, sowie Michael Höhenberger, Amtsleiter Bayerisches Sozialministerium. Foto: Ruth Plössel/Stadt Augsburg

Malerisch: Die Produkte der MutMacherMenschen gemeinnützige eG. Die Fassade des großen Insektenhotels ist dem Augsburger Rathaus nachempfunden. Foto: Ruth Plössel/Stadt Augsburg

Die Mitarbeiter kommen oft auf Empfehlung, aber immer aus freien Stücken zu den MutMacherMenschen. „Niemand hat sie geschickt. Sie wollen in ihrem Leben selbst etwas verändern“, sagt Almer. Diese innere Kraft aufzubringen, fällt vielen Menschen mit psychischen Erkrankungen extrem schwer. Sie schaffen es nicht, längere Zeit konzentriert zu bleiben, viele bleiben oft tagelang zu Hause und trauen sich nicht vor die Haustüre. „Da gibt es leider ganz viel Elend“, sagt die Vorsitzende.

Wer bei der Genossenschaft arbeitet, bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente oder Grundsicherung. „Die Gesellschaft hat diese Menschen aussortiert“, sagt Almer. Sie haben lange Aufenthalte in der Psychiatrie oder in psychiatrischen Tagesstätten hinter sich. Dort gibt es ebenfalls Beschäftigungsangebote, aber diese erfordern wenig Eigeninitiative. „Da besteht die Aufgabe schon einmal darin, Kugelschreiber zusammenzuschrauben. Das ist keine Herausforderung. Denn die Menschen sind ja nicht dumm. Sie haben nur psychische Probleme“, sagt Almer. Bei den MutMacherMenschen lernen sie hingegen, Verantwortung zu übernehmen und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu fassen. Das ist schwerer als gedacht. „Was im Alltag leicht aussieht, kostet unsere Mitarbeiter viel Kraft“, sagt Almer. Deshalb versucht die Genossenschaft, für jeden Mitarbeiter die passende Arbeit zu finden.

Neue Werkstatt im Stadtteil Lechhausen

Anfang Oktober bezogen die MutMacherMenschen ihre neue Werkstatt im Augsburger Stadtteil Lechhausen mit zwei Büroräumen und Lager. Die Psychologin Ruth Häußler ist verantwortlich dafür, dass alles reibungslos läuft. Die Werkräume wurden in einen ruhigen und einen lauten Bereich unterteilt und schallgedämmt. „Nicht jeder kommt damit zurecht, wenn nebenan die Kreissäge läuft oder das Telefon klingelt. Deshalb schauen wir bei jedem Mitarbeiter, wie er sich am besten einbringen kann“, sagt Häußler, die auch dem Vorstand der Genossenschaft angehört.

Tag der offenen Tür am 15. November

Wer den MutMacherMenschen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen will, kann dies beim Tag der offenen Tür am Freitag, 15. November 2019, tun. Das neue Domizil in der Blücherstraße 145 (1. Stock) steht den Besuchern von 10 bis 17 Uhr offen. Wer will, kann dort auch gleich eines der Wildbienenhotels oder Vogelhäuser erwerben.

Am alten Standort war die Genossenschaft an drei Tagen in der Woche zur Untermiete in einem Werkraum untergekommen. Jetzt sind die MutMacherMenschen endlich unter sich. Geöffnet ist nun an fünf Tagen in der Woche. Das macht es für Häußler einfacher, die Mitarbeiter entsprechend ihrer Fähigkeiten einzuteilen. „Und wir müssen nicht mehr jeden Abend aufräumen, weil noch andere die Werkstatt nutzen wollen“, sagt die Psychologin. Mittags gibt es für alle ein gemeinsames Mittagessen, um die Gemeinschaft und die sozialen Fähigkeiten zu stärken.

Die Mitarbeiter dürfen bis zu 15 Stunden in der Woche arbeiten, damit sie sich nicht überfordern. Dafür erhalten sie zu ihrer Grundsicherung oder ihrer Rente eine sogenannte Motivationszahlung. Obwohl Häußler Psychologin ist, arbeitet sie bei der Genossenschaft nicht therapeutisch. „Es geht uns darum, die Menschen so weit zu stabilisieren und ihr Selbstwertgefühl zu stärken, dass sie sich auch in einem regulären Job zurechtfinden“, sagt Häußler.

Sozial: Die Mitarbeiter der Produktivgenossenschaft MutMacherMenschen fertigen Wieldbienenhotels und Vogelhäuschen, die in der Region Augsburg und im Internet verkauft werden. Fotos: Dennis Engelhard

Regional: Bei allen Produkten verwenden die Mitarbeiter der MutMacherMenschen regionale und ökologische Materialien.

Nachhaltig: Alle Produkte werden sorgfältig und mit viel Liebe von Hand hergestellt. Die Löcher der Wildbienenhotels werden einzeln gebohrt und das Schilf von Hand sortiert und eingeklebt.

Schreinermeister Johann Kanefzky betreut die Werkstatt. Daneben gibt es auch in der Verwaltung, im Marketing und in der IT viel zu erledigen, denn die Genossenschaft trägt sich weitgehend selbst und ist deshalb darauf angewiesen, ihre Produkte zu vermarkten. Zuschüsse gibt es nur vom Bezirk Schwaben, die Stadt Augsburg fördert zudem das Mittagessen.

Erhältlich sind Wildbienenhotels, Vogelhäuser & Co. in verschiedenen Naturmärkten und Gartencentern in Augsburg und Umgebung sowie auf der Webseite der MutMacherMenschen. Neben den individuellen Kunden wenden sich auch viele Firmen mit Spezialaufträgen an die MutMacherMenschen. „Wenn die Wünsche unsere Möglichkeiten nicht überschreiten, machen wir das auch“, so die Vorsitzende.

Weihnachtsgeschenke von Genossenschaften

Schon alle Präsente für Weihnachten besorgt? Falls nicht, bieten bayerische Genossenschaften eine Vielzahl von Produkten an, die sich gut unter dem Christbaum machen. Dazu gehören auch die von Hand gefertigten Wildbienenhotels und Nistkästen der MutMacherMenschen eG. „Profil“ hat in der Ausgabe 12/2018 eine Auswahl an genossenschaftlichen Weihnachtsgeschenken zusammengestellt.

Sobald sich die Mitarbeiter fit genug für einen geregelten Arbeitsplatz fühlen, hilft die Genossenschaft dabei, eine passende Stelle zu finden. Edith Almer vermittelt zwischen Unternehmen und den Mitarbeitern. Der Erfolg gibt ihr recht: Die meisten wechselwilligen Mitarbeiter hat die Vorständin untergebracht. „Für uns sind das lauter kleine Erfolgsgeschichten“, freut sie sich. Dabei hilft ihr auch ihr gutes Netzwerk. In dieser Hinsicht sei Augsburg ein Dorf. Vor allem im sozialen Bereich kenne jeder jeden.

„Es wird viel gelacht bei uns. Das tut richtig gut.“

Noch kann sich Susanne nicht vorstellen, normal zu arbeiten, doch das ist ihr festes Ziel. „Ich fühle, dass dieser Gedanke immer öfter kommt“, sagt die 51-Jährige, die unter chronischen Depressionen leidet. Seit sie bei den MutMacherMenschen arbeitet, geht es ihr viel besser. „Ich bin so froh, dass ich dort gelandet bin, ich wüsste nicht, was ich sonst gemacht hätte“, sagt die gelernte Oberbekleidungs-Schneiderin. Sechs Jahre lang sei sie untätig zu Hause gesessen und habe nicht gewusst, was sie mit sich anfangen soll. „Das Leben vor den MutMacherMenschen war nicht gut. Ich hatte ständig schlechte Gedanken.“

Jetzt sind die Wildbienenhotels ihre Spezialität. In ihrer Arbeit gehe sie richtig auf, die Zeit gehe viel schneller vorbei als früher, erzählt sie. „Ich überlege mir, wie ich das Häuschen individuell gestalte, und am Ende kommt immer etwas anderes heraus als ursprünglich gedacht.“ Aber das mache ihr gerade Freude. Die traurigen Gedanken gebe es trotzdem noch, aber während der Arbeit seien sie so gut wie nie da, berichtet Susanne. „Wenn ich die schlechten und die guten Tage zusammenzähle, dann gibt es inzwischen bei weitem mehr gute Tage.“ Dabei haben ihr auch die Kollegen bei den MutMacherMenschen geholfen. „Wir nehmen Rücksicht aufeinander und suchen das offene Gespräch, wenn es mal Reibungen gibt. Aber insgesamt kommen wir super miteinander aus“, sagt Susanne. Und: „Es wird sehr viel gelacht bei uns. Das tut richtig gut.“

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