Bürgerliche Selbsthilfe: Sozialgenossenschaften übernehmen für die Gesellschaft wichtige Aufgaben: Sie helfen Menschen, selbstbestimmt zu leben. „Profil“ stellt einige vor.
Frau Staatsministerin Scharf, das Bayerische Sozialministerium unterstützt die Gründung von Sozialgenossenschaften. Warum?
Ulrike Scharf: Überall in Bayern schließen sich Menschen zusammen, um vor Ort etwas zu bewegen – im sozialen Bereich, in der Pflege, bei neuen Wohnformen oder bei der regionalen Nahversorgung. Sozialgenossenschaften sind eine innovative Form organisierter bürgerschaftlicher Selbsthilfe. Sie sind ein starkes Zeichen dafür, dass Menschen miteinander ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. In Artikel 153 der Bayerischen Verfassung ist festgeschrieben, dass der Staat den genossenschaftlichen Gedanken fördern soll. Genossenschaften haben in Bayern eine lange Tradition. Trotzdem sind Sozialgenossenschaften nicht immer der breiten Öffentlichkeit bekannt. Schon seit 1889 regelt das Genossenschaftsgesetz, wie sich Menschen zusammenschließen können, um gemeinsam wirtschaftlich aktiv zu sein. Einen wichtigen Schub gab es im Jahr 2006: Ein neues Gesetz hat die Rechtsform ausdrücklich auch für soziale und kulturelle Zwecke geöffnet. Das war ein Meilenstein für Sozialgenossenschaften. Um gute Ideen und Projekte mit Leben zu füllen, bekommen Menschen, die eine Sozialgenossenschaft gründen, eine Anschubfinanzierung von bis zu 30.000 Euro (siehe dazu auch letzte Frage, Anm. d. Red.).
„Sozialgenossenschaften sind eine innovative Form organisierter bürgerschaftlicher Selbsthilfe.“
Was unternehmen Sie, um soziales Engagement in Bayern zu stärken?
Scharf: 2012 haben wir die Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften gestartet, um den Aufbau sozialer Genossenschaften gezielt zu fördern. Es ist aber nicht die einzige Möglichkeit, zivilgesellschaftliches Engagement zu unterstützen. In Bayern setzen wir auf eine ganze Bandbreite an Maßnahmen – ganz gleich ob in Form einer Sozialgenossenschaft, eines Projekts oder ehrenamtlicher Strukturen. Mit unserem Social-Startup-Hub Bayern werden Gründerinnen und Gründer, die mit ihrer Idee einen sozialen, ökologischen oder zivilgesellschaftlichen Mehrwert schaffen, gefördert. Das Ehrenamt stärken wir in Bayern auf vielfältige Art und Weise: Mit dem Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement Bayern e.V. bauen wir Infrastruktur für das Ehrenamt in Bayern aus. Besonders wichtig ist uns im Freistaat die Stärkung der Anerkennungskultur. Mit unserer Bayerischen Ehrenamtskarte haben wir ein sichtbares Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung geschaffen. Aktuell erhalten über 250.000 Inhaberinnen und Inhaber der Bayerischen Ehrenamtskarte kostenfreien Eintritt beim Besuch der staatlichen Schlösser und Burgen, Museen und Sammlungen und kostenfreie Linienfahrten mit der Bayerischen Seenschifffahrt. Wir setzen bei unserer Unterstützung nicht auf die eine Variante für alle, sondern auf Vielfalt und Passgenauigkeit.
Wann bietet sich die Gründung einer Sozialgenossenschaft an?
Scharf: Sozialgenossenschaften schaffen Lösungen für viele Lebensbereiche. Sie tragen dazu bei, Kitas, Dorfläden, Wohnprojekte oder Pflegeangebote in einer Region zu realisieren. Wenn sich Menschen zusammenfinden, ihr Wissen, Engagement und Geld einbringen, um gemeinsam ein soziales Anliegen zu verwirklichen, das allein nicht umsetzbar ist, ist eine Sozialgenossenschaft die richtige Organisationsform.
„Sozialgenossenschaften stehen für ein einfaches, aber starkes Prinzip: Gemeinsam machen, was allein kaum gelingt.“
Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Vorteile einer Sozialgenossenschaft im Unterschied zu anderen Rechtsformen?
Scharf: Das Genossenschaftsprinzip lautet „Hilfe zur Selbsthilfe“. Sozialgenossenschaften stehen für ein einfaches, aber starkes Prinzip: Gemeinsam machen, was allein kaum gelingt. Wer mitmacht, gestaltet mit – von der Idee bis zur Finanzierung. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, Gewinne gemeinsam genutzt.
- Jedes Mitglied ist demokratisch in die Entscheidungen eingebunden. Es gilt: „Alle für einen, einer für alle“.
- Sozialgenossenschaften sind wirtschaftlich tätig und tragen sich selbst. Damit unterscheiden sie sich primär vom eingetragenen Verein, der in der Regel ideelle Zwecke verfolgt.
- Die erwirtschafteten Überschüsse fließen nicht an Dritte, sondern direkt an die Mitglieder oder kommen dem gemeinsamen Zweck zugute.
- Wer mitmachen will, kann das unkompliziert tun. Die Mitgliedschaft ist flexibel. Es braucht lediglich drei dauerhafte Mitglieder, damit die Genossenschaft bestehen kann.
- Auch ohne Eigenkapital kann es losgehen. Eine Sozialgenossenschaft braucht kein Mindestkapital – das macht sie besonders für Gründerinnen und Gründer attraktiv.
- Die Haftung bleibt auf das Vermögen der Genossenschaft begrenzt. Wer gründet, geht also kein privates Risiko ein.
Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften
16 Beispiele für Sozialgenossenschaften zählt das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales auf seiner Webseite zur Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften auf – von der Altenhilfe und dem Ärztehaus über Mehrgenerationenprojekte bis zur Vermittlung von Mikrokrediten. Einige von ihnen sind ausführlicher beschrieben. Außerdem finden Interessierte auf der Webseite Informationen zur Gründung von Sozialgenossenschaften und zur Förderung durch das Ministerium.
Sie haben es eingangs erwähnt: Das Bayerische Sozialministerium fördert den Aufbau von Sozialgenossenschaften mit einer Anschubfinanzierung. Was sollten potenzielle Genossenschaftsgründer dazu wissen?
Scharf: Wir unterstützen als Sozialministerium die Gründung von Sozialgenossenschaften mit einer Anschubfinanzierung von bis zu 30.000 Euro. Für eine Förderung kommen innovative Genossenschaftsgründungen im sozialen Bereich in Betracht, die Leuchtturmcharakter haben. Die Unterstützung soll über anfängliche finanzielle Engpässe hinweghelfen. Langfristig muss sich die Genossenschaft – ganz dem genossenschaftlichen Gedanken entsprechend – selbst tragen. Wer Fragen zur Förderung hat, kann sich jederzeit via E-Mail an sozialgenossenschaften(at)stmas.bayern.de an das Team des Sozialministeriums wenden.
Frau Staatsministerin Scharf, herzlichen Dank für das Interview!
Anschubfinanzierung für betreute Wohngemeinschaften
Der Freistaat Bayern fördert unabhängig von der Rechtsform des Betreibers den Aufbau von ambulant betreuten Wohngemeinschaften mit einer Anschubfinanzierung in Höhe von bis zu 40.000 Euro. Für die Finanzierung einer Moderation in der Gründungsphase können Initiatorinnen und Initiatoren von ambulant betreuten Wohngemeinschaften einen Antrag auf Bewilligung einer staatlichen Zuwendung stellen. Weitere Informationen gibt es auf der Webseite des Bayerischen Gesundheitsministeriums.
Weiterführende Links
- Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales
- Informationen zu Sozialgenossenschaften auf der Webseite des Bayerischen Sozialministeriums
- Die Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften des Bayerischen Sozialministeriums
- Informationen des Bayerischen Sozialministeriums zum Thema „Wohnen im Alter“ und zu Seniorengenossenschaften