Bürgerliche Selbsthilfe: Sozialgenossenschaften übernehmen für die Gesellschaft wichtige Aufgaben: Sie helfen Menschen, selbstbestimmt zu leben. „Profil“ stellt einige vor.
Herr Ganzer, die Genossenschaft Bellevue di Monaco feierte dieses Jahr ihr Zehnjähriges. Wie hat dieses Projekt eigentlich begonnen?

Christian „Grisi“ Ganzer ist Mitgründer der gemeinnützigen Münchner Sozialgenossenschaft „Bellevue di Monaco“ und verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Foto: GVB
Christian „Grisi“ Ganzer: Das Projekt hat sich aus einer Mischung von Notwendigkeit, Engagement und Nachbarschaft entwickelt. 2015, kurz vor der sogenannten Flüchtlingskrise im Sommer, haben wir uns gegründet. In München war die Situation sogar schon 2014 angespannt. Die Bayernkaserne war überfüllt, Geflüchtete kampierten teilweise im Freien. Die Stadt hat händeringend bewohnbare Räumlichkeiten gesucht. Wir haben darauf hingewiesen, dass in unserem Viertel an der Müllerstraße Häuser leer stehen. Nach vielen Diskussionen, Demos und Verhandlungen war es endlich soweit: 2016 wurde der Pachtvertrag unterschrieben, wir haben mit Ehrenamtlichen die Gebäude entrümpelt, und im Herbst begann die Sanierung. Bereits 2017 konnten die ersten Bewohner einziehen. 2018 war dann die offizielle Einweihung mit dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter. Damit hatten wir in relativ kurzer Zeit – verglichen mit städtischen Projekten – einiges erreicht.
Wenn man sich so umsieht, wuselt es hier mittlerweile gewaltig. Was bietet das Bellevue mittlerweile alles an?
Ganzer: Zum einen können die Menschen hier wohnen. Die Müllerstraße 6 hat fünf Wohnetagen mit je einer großen Wohnung für vier junge Erwachsene - jeweils betreut von einem Jugendhilfeträger. Die Wohnungen werden nicht von uns direkt an Geflüchtete vergeben, sondern wir vermieten an die Jugendhilfeträger.

Das Bellevue di Monaco besteht aus mehreren Häusern. In der Müllerstraße 2 (Bild) ist die Schaltzentrale der Genossenschaft. In den Hausnummern 4 und 6 finden Geflüchtete eine sichere Bleibe.
Daneben haben wir die Nummer 4, das älteste Haus, in dem Familien und Alleinerziehende mit Kindern wohnen. Die Familien dürfen bleiben, solange sie wollen. Die Kinder wachsen hier ins Viertel hinein, gehen hier zur Schule und haben ihre Freunde. Auch hier gibt es jeweils einen Träger, der die Wohnungen betreibt und sich kümmert.
„Wir haben mittlerweile so viel Sprachunterricht, Beratungen und ein noch größeres Angebot, dass wir locker das Doppelte an Räumen belegen könnten, wenn wir sie hätten.“
Das bedeutet, die Träger mieten bei uns und betreuen die Familien. Wir haben damit nur die Vermietungsarbeit, nicht die pädagogische oder sozialarbeiterische Begleitung. Das ist gut so, denn wir sind selbst keine Sozialpädagogen. Das Ganze wurde aus der Nachbarschaft heraus gegründet. Wir kommen aus unterschiedlichen Bereichen, die meisten eher aus der Kulturarbeit. Darum ist es wichtig, dass wir professionelle Kooperationen haben. Neben dem Wohnen gibt es unsere Beratung. Beratung ist alles, was mit Aufenthaltsrecht zu tun hat. Wir haben Migrationsberatung, das sind Themen wie beispielsweise Wohnen, Arbeiten oder Schule. Zudem bieten wir mehrere Arbeitsmarktberatungen für verschiedene Fachbereiche an: Pflege, Handwerk, Einzelhandel. Wir haben individuelle Unterstützung mit den A-Teams.

Externer Inhalt
Nach Ihrer Einwilligung werden Daten an YouTube übertragen.
Zehn Jahre Bellevue die Monaco. Video: Karl-Peter Lenhard, GVB
A-Teams?
Ganzer: So nennen wir unsere Ausbildungsteams, A wie Ausbildung. Das sind Leute, die jeweils einen Geflüchteten unterstützen, eine Ausbildung zu machen. Es können dabei viele Probleme auftreten: eine hohe Abbrecherquote, Überforderung mit der Berufsschule, das schwierige Fachvokabular der deutschen Sprache. Überhaupt ist die Berufsschule in Deutschland extrem anspruchsvoll im Vergleich zu anderen Ländern, wo teilweise gar keine Berufsschulpflicht existiert. Betriebe für die Leute zu finden ist einfach, schwieriger ist das ganze Drumherum. Damit Ausbildungen nicht scheitern oder abgebrochen werden, gibt es die A-Teams.
Zusätzlich haben wir haben vor nicht allzu langer Zeit einen Dolmetsch-Dienst übernommen. Dort arbeiten Sprachmittler, die für spezielle Zwecke – etwa Klinikaufenthalte oder Amtsgänge von Menschen ohne Deutschkenntnisse – beauftragt werden. Der Dolmetsch-Dienst läuft unabhängig von uns, Kliniken oder Ämter können ihn direkt buchen. Wir sind nun der Träger.
Das klingt nach einer Herkulesaufgabe. Aber wenn ich mich so umsehe, hier im Café des Bellevue, hängen auch unzählige Poster und Flyer für diverse Veranstaltungen an den Eingangstüren.
Ganzer: Klar, wir haben ja noch viel mehr zu bieten. Gesellige Veranstaltungen, wie das offene Haus am Mittwoch, wo Leute einfach kommen können, zusammen essen oder spielen. Meistens gibt es parallel auch Beratungstermine. So sehen die Leute: Man kann bei uns einfach andocken. Außerdem gibt es noch spezielle Angebote, sei es sportlicher Natur oder das Frauencafé.
Dann haben wir noch unsere Fahrradwerkstatt im Keller der Nummer 4. Das war eine eigenständige Gruppe, die mit ihrer Werkstatt aus einer Flüchtlingsunterkunft raus musste. Sie haben gefragt, ob wir Platz haben, und wir hatten noch ein paar Quadratmeter im Keller. Zuletzt haben wir unser Dach umgebaut. Da war noch Raum für einen Sportplatz. Das läuft in Kooperation mit „Buntkicktgut“, die die Belegung organisieren.
Die Angebote sind alle niedrigschwellig. Kochen bringt die Leute zusammen, auch wenn man sich sprachlich nicht verständigen kann. Deshalb haben wir im unteren Saal eine Küche eingebaut, weil klar war: Für Gruppenräume braucht man eine Küche. Und dann natürlich der Sport. Das funktioniert auch mit rudimentären Deutschkenntnissen.

Sport funktioniert auch mit rudimentären Deutschkenntnissen. Der Sportplatz auf dem Dach des Bellevue di Monaco wird in Kooperation mit „Buntkicktgut“ betrieben.
Wohnen, Beraten, Kochen, Sport… Bei so vielen Angeboten, reicht denn da der Platz?
Ganzer: Nein, ganz und gar nicht, wir platzen hier aus allen Nähten. Wir haben mittlerweile so viel Sprachunterricht, Beratungen und ein noch größeres Angebot, dass wir locker das Doppelte an Räumen belegen könnten, wenn wir sie hätten. Aber ja, hier in der Innenstadt ist die Expansion natürlich schwierig. Wir kämpfen schon lange um ein leerstehendes Hinterhaus der Stadt München in der Corneliusstraße. Dorthin hätten wir gerne die Arbeitsthemen verlegt, unsere sogenannte Ausbildungsbäckerei. Wir würden uns das Haus sehr wünschen, zuletzt wurde uns von der Stadt auch signalisiert, dass es hier weitergehen könnte.

Im Café des Bellevue di Monaco finden sich zahlreiche Aushänge und Flyer für Veranstaltungen der Sozialgenossenschaft.
Die Stadt unterstützt Euch auch tatkräftig beim „Giro di Monaco“, Eurem Spendenlauf über den Münchner Altstadtring.
Ganzer: Das stimmt. Mittlerweile hat der Giro zum vierten Mal stattgefunden und bei jedem Lauf erreichten wir die Spendensumme von 125.000 Euro. Dabei hatte uns Corona einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. 2020, kurz nach dem Lockdown, hätte der erste Giro stattfinden sollen. Hätten wir damals nicht schon die 10.000 Shirts herumliegen gehabt, wäre hier schon Ende gewesen. Aber die Trikots konnten wir ja nicht wegschmeißen. Zum Glück stand kein Jahresdatum drauf, nur das Logo. Also starteten wir 2022 einen neuen Anlauf, aber mit ganz anderen Vorzeichen. Mittlerweile hatte der Ukrainekrieg begonnen. Deswegen hieß es gleich am Anfang „Run for Peace“.
Neben dem „Giro di Monaco“, dem bekanntesten Eurer Projekte, seid Ihr aber mit verschiedenen Projekten auch außerhalb der Grenzen Bayerns aktiv.
Ganzer: Zwar nicht regelmäßig, aber wir haben tolle Dinge in den letzten Jahren erlebt. Beispielsweise wurden wir 2023 in den Deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig eingeladen. Das Konzept im Pavillon war, das Material der Kunstbiennale wiederzuverwenden, das sonst weggeworfen worden wäre. Der Deutsche Pavillon hatte das Material eingelagert und wollte es weiterverwenden. Wir waren in der Startwoche da und haben für ein Sozialprojekt am Festland eine mobile Bar gebaut, die sie für ihre Veranstaltungen nutzen konnten. Dann haben wir hier auch eine erfolgreiche Theatergruppe, mit Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten. Die waren dieses Jahr beim Theatertreffen der Jugend in Berlin eingeladen und standen dort auf der Bühne.
„Es ist schnell möglich, Dinge zu bewegen, wenn man sich zusammentut.“
Neben diesen eher einmaligen Gelegenheiten helfen wir bei wir kleinen, konkreten Projekte. Zum Beispiel haben wir ein Projekt in Athen unterstützt, wo ein ehemaliges Hotel als Geflüchteten-Unterkunft von der Bürgerschaft betrieben wurde. Ein weiteres Projekt hat einen traurigen Hintergrund: Wir haben für eine Organisation an der tunesischen Küste gesammelt, die die Körper von Ertrunkenen sichert, versucht, sie zu identifizieren, die Familien zu benachrichtigen und den Toten ein würdiges Begräbnis zu geben. Für uns ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf solche Themen zu lenken und dafür genügend Unterstützung zu finden.
Und wie sieht die Unterstützung aus?
Ganzer: In München selbst haben wir viele Unterstützer. Das sind etwa 800 Genossenschaftsmitglieder, die eine Einlage geleistet haben. Dazu ungefähr 500 Ehrenamtliche, die in verschiedenen Intensitäten mitarbeiten. Und wir haben rund 20.000 Follower auf unseren Social-Media-Kanälen. Außerdem sind wir gut vernetzt. Wir machen viel in Kooperation mit anderen Organisationen – zum Beispiel mit dem Flüchtlingsrat, Refugio, der Seebrücke oder den Migrationsbeiräten in München. Eigentlich laufen die meisten Veranstaltungen als Gemeinschaftsprojekte.
Sie sprechen es gerade an, Sie firmieren als Genossenschaft. Warum haben Sie sich für die Rechtform Genossenschaft entschieden?
Ganzer: Wir sind ja gar nicht selbst auf die Idee gekommen, eine Genossenschaft zu gründen. Das kam durch Christian Stupka, der die WOGENO mitgegründet hat. Er ist sehr aktiv unterwegs, was Genossenschaften betrifft, und bei uns Mitglied mit der Nummer eins. Schon ganz am Anfang, als wir noch keine feste Form hatten, hat er gesagt: „Wenn ihr das Haus übernehmen und sanieren wollt, macht das als Genossenschaft.“ Damit ist es einfach leichter, mit größeren Geldsummen zu hantieren. Ein Verein muss theoretisch am Jahresende null auf null rauskommen, all diese Probleme hat eine Genossenschaft nicht. Sie kann auch leichter eigene Wirtschaftsbereiche haben, wie wir es mit dem Café tun. Das war ein guter Tipp, denn wir mussten ja Geld bewegen und das Haus grundsanieren. Gleichzeitig wollten wir, dass es nicht so ein abgehobener Zirkel ist, sondern dass im Grunde jeder mitmachen kann. In Deutschland ist vieles hoch professionalisiert, und deshalb denken viele: Ich kann das nicht, da muss doch jemand zuständig sein. Aber meistens gibt es niemanden, der kommt und sich kümmert. Da muss man schon selbst aktiv werden. Es ist schnell möglich, Dinge zu bewegen, wenn man sich zusammentut.

Das „Bellevue di Monaco“ im Herzen Münchens bietet als Anlaufpunkt für ratsuchende Geflüchtete eine Vielzahl an Angeboten wie die Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache oder bei der Berufsausbildung.
Deshalb: Mach doch selbst was, bring dich ein. Das ist die eigentliche Botschaft. Man muss ins Tun kommen, mit diesem Gefühl: Wir schaffen das, wir schaffen es immer noch, und wir werden es weiterhin schaffen. Man muss dranbleiben und positiv bleiben, auch wenn die Welt manchmal dunkel wirkt. Es geht voran.
„Die zentrale Frage ist doch: Worauf schauen wir? Starren wir auf die, die es nicht schaffen, oder auf die, die es schaffen und als positives Beispiel dienen könnten? Davon brauchen wir viele.“
Inwiefern hat sich über die letzten zehn Jahre die Arbeit verändert?
Ganzer: Die hat sich massiv verändert. Die Gesetzgebung wurde härter, Unterstützungsstrukturen wurden abgebaut. Wenn man sich die Daten ansieht, sind die Flüchtlingszahlen stark zurückgegangen. Die zentrale Frage ist doch: Worauf schauen wir? Starren wir auf die, die es nicht schaffen, oder auf die, die es schaffen und als positives Beispiel dienen könnten? Davon brauchen wir viele. Man darf natürlich nicht so tun, als wäre Integration einfach. Das ist wahnsinnig anstrengend. Zunächst die Sprache. Deutsch ist schwer. Dann der Ausbildungsstandard in Deutschland, der sehr hoch ist. Viele, die herkommen, haben diesen Standard nicht, da braucht es Nachqualifizierung. Aber es würde sich lohnen. Im Grunde braucht es zwei große Offensiven: eine Sprach- und eine Ausbildungsoffensive. In 20 Jahren wird man vielleicht den Kopf schütteln, was wir uns zu diesem Zeitpunkt vorgestellt haben: Grenzen abschotten und alles selber machen? Die Demografie gibt es nicht her.
Mit Blick auf die politische Lage und die Wahlen nächstes Jahr will ich gar nicht so negativ sein. Wir müssen die Leute weiter überzeugen, dass Integration machbar ist – nicht nur aus Menschlichkeit, sondern weil es für das Überleben unserer Gesellschaft wichtig ist. Wir sind de facto ein Einwanderungsland. Wir können die Stellen nicht mehr allein mit den eigenen Geburten besetzen. Das ist eine zentrale Frage unserer Zukunft – direkt nach Klima- und Umweltschutz.
Die Flüchtlingskrise begann eigentlich direkt nach Ihrer Gründung. Und Bundeskanzlerin Merkel sagte damals den berühmten Satz: „Wir schaffen das“. Wie bewertet Sie aus eigener Erfahrung diesen Satz, auch im Hinblick auf die „Bellevue di Monaco“?
Ganzer: Ich würde sagen, wenn man will, kann man es schaffen. Es kommt immer auf den politischen Willen an. Außerdem wären wir gut beraten, bei der Einwanderung aktiver zu werden. Sogar in der Stadt München, die als Lebens- und Arbeitsplatz attraktiv ist, fallen die Buslinien teilweise aus, weil es nicht genügend Fahrer gibt.
„Wir müssen die Leute weiter überzeugen, dass Integration machbar ist – nicht nur aus Menschlichkeit, sondern weil es für das Überleben unserer Gesellschaft wichtig ist.“
Wir müssen eigentlich investieren in diese Menschen. Sie kommen nach Deutschland, weil es in ihrem eigenen Land perspektivlos ist. Aber man darf auch nicht fantasieren. Dass sie alle von ihren Herkunftsländern perfekt ausgebildet werden, perfekt Deutsch beigebracht bekommen und dann scharf darauf sind, hierherzukommen und sich vielleicht noch mit Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen, so wird es bestimmt nicht laufen. Wie gesagt, im Moment haben wir noch Menschen, die freiwillig kommen und unbedingt arbeiten wollen. Wenn man die alle vergrault, wird es schwierig. Natürlich gibt es immer wieder Probleme. Oft werden aber eher Behauptungen aufgestellt, etwas sei ein Problem. Dann sollte man nachfragen, wo sie wirklich liegen und was man tun kann, um sie zu lösen – ohne Menschen abzuschieben oder in eine ungewisse, vielleicht tödliche Zukunft zu schicken. Genau darum geht es: gemeinsam Verantwortung übernehmen.
Herr Ganzer, vielen Dank für das Interview!