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Wer einmal einen Marathon gelaufen ist, weiß: Der Start ist meist euphorisch, anfangs muss man sogar oft das Tempo drosseln. Mit der Zeit läuft es, über eine gewisse Strecke tragen einen die Beine wie von selbst. Doch es gibt auch die Durststrecken, dann hämmert das Wort „Aufgeben“ im Kopf. Es braucht einen großen Willen und viel Kraft, um trotzdem weiterzulaufen und ins Ziel zu kommen. So ist es bei einem Langstreckenlauf – und auch beim Bau eines Nahwärmenetzes, wenn es nach Otto Pfelzer geht. „Es ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, ist der Vorstand der Nahwärme Billenhausen eG überzeugt.

Pfelzer muss es wissen. Seit 2021 engagiert er sich mit anderen Bürgern im 500-Einwohner-Dorf Billenhausen bei Krumbach dafür, Energie direkt vor der eigenen Haustüre zu produzieren. Damals konnte noch niemand wissen, dass nur ein Jahr später der Ausbruch des Ukraine-Kriegs die Energiewelt auf den Kopf stellt und den Preis von Öl und Gas in nie zuvor dagewesene Höhen treibt. „Vor dem 24. Februar 2022 mussten wir im Dorf noch Überzeugungsarbeit leisten. Seit dem Ausbruch des Kriegs ist unser Nahwärme-Projekt ein Selbstläufer. Alle wollen Energiegenossen werden“, sagt Pfelzer.

Interesse an Genossenschaft seit der Energiekrise extrem gestiegen

Den gesamten Ort ans Netz anzuschließen, ist jedoch erst einmal nicht möglich. Zunächst kann nur ein Teil mit Nahwärme versorgt werden, rund 300 Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise 85 Anschlussnehmer. Damit die anderen Haushalte ebenfalls regional erzeugte Energie erhalten, braucht es ein zweites Heizkraftwerk. Und es steht noch nicht einmal das erste. „Mit dem Bau der Hackschnitzel-Heizanlage beginnen wir jetzt im Frühjahr, im Herbst dieses Jahres soll sie in Betrieb gehen“, erläutert Pfelzer. Die Anlage entsteht auf einem Grundstück mitten im Dorf. Dort werden in Zukunft 2.500 bis 3.000 Kubikmeter Holzhackschnitzel im Jahr verheizt. Billenhausen ist umgeben von Wäldern, sodass genügend Holz vorhanden ist, einem „regional verfügbaren Energieträger“, betont der Rentner.

Mit der Verlegung der Wärmeleitungen hat die Genossenschaft bereits Ende vergangenen Jahres begonnen. Mitte 2024 soll der letzte Abschnitt fertiggestellt werden. Alles läuft in Eigenregie. Stück für Stück graben sich die Energiegenossen durch die privaten Gärten und verlegen die Leitungen, in denen in Zukunft heißes Wasser zu den Häusern fließen wird. Dabei müssen alle mitanpacken, auch die Anschlussnehmer. „Der Bau des Nahwärmenetzes ist ein Gemeinschaftsprojekt. Hier zählt das Wir“, betont der Vorstandsvorsitzende. Vom Wir profitieren dann alle, besonders wenn es um den Preis geht. „Wir bieten den Genossen die Wärme für 9,90 Cent je Kilowattstunde.“ Ein unschlagbarer Preis, wenn man sich auf dem Markt umsieht.

744 Tonnen Kohlendioxid im Jahr weniger

Pro Nahwärme-Anschluss zahlen die Billenhausener 1.000 bis 4.000 Euro, je nach Anschlussmodell, dazu kommt noch der Genossenschaftsanteil von 5.000 Euro – eine Investition, die sich nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden absolut rentiert, vor allem in Anbetracht der derzeitigen Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums. Ab 2024 soll der Einbau neuer Öl- und Gasheizungen in Deutschland verboten sein. Stattdessen müssen nach und nach alle Heizungen zu 65 Prozent Wärme aus erneuerbaren Energien erzeugen. Für viele Bayern besteht dann Handlungsbedarf, wenn die Öl- oder Gasheizung den Geist aufgibt, denn im Freistaat werden drei Viertel der Häuser noch fossil beheizt, auch in Billenhausen ist der Anteil hoch. 98 Prozent der Anschlussnehmer heizen derzeit noch mit fossilen Energieträgern. Dies ergebe etwa 280.000 Liter Heizöl und einen CO2-Anteil von 744 Tonnen Kohlendioxid im Jahr, rechnet Otto Pfelzer vor. Damit ist bald Schluss. In Zukunft bezieht ein Großteil der Dorfbewohner regionale, klimafreundliche und günstige Energie.

Einer davon ist Otto Pfelzers Sohn Florian. Er baut gerade ein Haus mit mehreren Wohnungen in Billenhausen. Für ihn liegen die Vorteile der Nahwärme auf der Hand: „Als Bauherr brauche ich kein eigenes Heizsystem“, sagt er. Keine Wartungskosten, keine Scherereien mit dem Heizkessel. Entscheidend ist für ihn aber das Thema Nachhaltigkeit. „Das Haus ist klimaneutral, es entstehen keine neuen CO2-Emissionen“, betont er. Damit könne er einen Beitrag zur Energiewende leisten. 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen werden in Deutschland durchs Heizen verursacht. „Hier gibt es ein hohes Einsparpotenzial fürs Klima.“

Die Idee, den Ort mit Nahwärme über eine Hackschnitzel-Heizzentrale zu versorgen, stammt von den Billenhausener Landwirten Georg Broll und Max Miller. „Die beiden sind mit ihrer Idee zu mir gekommen“, sagt Otto Pfelzer. Aus der Idee wurde ein Plan und aus dem Plan wurde Realität, aus engagierten Dorfbewohnern eine Genossenschaft, die sich für ihre Heimat stark macht.

Genossenschaft gründen: Der GVB unterstützt

Nur drei Personen braucht eine eG zur Gründung. Jedes Mitglied hat eine Stimme. Diese und viele Vorteile machen die Genossenschaft zu einer attraktiven Rechtsform. Der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) unterstützt Genossenschaftsgründer mit einem umfangreichen Dienstleistungsangebot. So können sich potenzielle Gründer auf der Webseite des GVB über die Rechtsform sowie die notwendigen Schritte informieren.

Dazu gibt es zahlreiche Dokumente zum Download, zum Beispiel einen Rechtsformenvergleich, eine Checkliste zur Genossenschaftsgründung, Hinweise zum Geschäftsplan, eine Mustersatzung sowie eine Mustereinladung und ein Protokollmuster für die Gründungsversammlung. Zudem hat der GVB die häufigsten Fragen zur Genossenschaftsgründung zusammengestellt. Für weitere Informationen steht das GVB-Gründungsteam gerne zur Verfügung.

Rund 1.000 Arbeitsstunden hat Pfelzer in den vergangenen Jahren in das Projekt Nahwärme gesteckt. Und es werden noch viele hinzukommen, denn die Genossenschaft hat große Pläne. „Wir bilden jetzt die Infrastruktur für die nächsten 100 Jahre und die nachkommenden Generationen“, sagt der Schwabe. Das bedeutet: Bei zukünftigen Baugebieten müsse immer die Nahwärmeversorgung mitgedacht werden. Außerdem soll 2025 auch der andere Teil des Dorfs mit ans Netz, dafür braucht es jedoch, wie erwähnt, eine zweite Heizzentrale.

Pfelzer hat schon jetzt alles im Kopf und genaue Vorstellungen, wie Billenhausen einmal ein klimaneutraler Ort wird. Und da kommt einem wieder sein Satz ins Gedächtnis. Kein Sprint, sondern ein Marathon. Gut, dass der Vorstandsvorsitzende einen langen Atem hat.

34 Neugründungen im Jahr 2022

Im Jahr 2022 hat der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) 34 neu gegründete Genossenschaften als Mitglieder aufgenommen. Das ist der höchste Stand seit 2013. Bei den Gründungen setzt sich der Trend der vergangenen Jahre fort. 16 der ins Leben gerufenen eGs sind Energiegenossenschaften, davon wiederum zwölf Nahwärmegenossenschaften. Bei den vier weiteren handelt es sich um eGs, die ihren Fokus auf den Bau von Photovoltaikanlagen legen. Insgesamt gehören damit 289 Energiegenossenschaften dem GVB an.

Energiegenossenschaften boomen

Bei der Gründung von Energiegenossenschaften lässt sich eine dritte Gründungswelle identifizieren. In einer ersten Gründungswelle von Energiegenossenschaften zwischen 2007 und 2013 ging es den Initiatoren in erster Linie darum, die Energiewende voranzutreiben. In der zweiten Welle, die 2017 begann und bis 2020 andauerte, wurden vor allem Nahwärmegenossenschaften gegründet. Hauptmotive waren, auf nachhaltige Energie umzusteigen und Kosten zu sparen.

Bürger kehren fossilen Energieträgern den Rücken

Die derzeit laufende dritte Welle hat zusätzlich zum Ziel, sich unabhängig von Energielieferungen aus Drittstaaten zu machen. Besonders der Ausbruch des Ukraine-Kriegs und die damit verbundene Energiekrise bringt immer mehr Bürgerinnen und Bürger dazu, die Energieerzeugung selbst in die Hand zu nehmen und fossilen Energieträgern wie Öl und Gas den Rücken zu kehren. Hinzu kommen politisch verursachte Unsicherheiten wie ein mögliches Verbot von Öl- und Gasheizungen.

Genossenschaften machen sich für ihre Heimat stark

Neben den 16 Energiegenossenschaften hat der GVB auch Genossenschaften aus anderen Bereichen bei der Gründung begleitet. Zum Beispiel zwei Genossenschaften, die im Münchener Umland Unverpackt-Läden eröffnen möchten. Für ihre Heimat macht sich auch die Dorfwirtschaft Giggenhausen eG stark. Mit der Kraft der Gemeinschaft hat die Genossenschaft den Metzgerwirt im Ort vor der Schließung gerettet. Mit einem neuen Pächter läuft der Betrieb wieder.

Einsatz für regionale und nachhaltig erzeugte Lebensmittel

Die 2022 gegründete JuraMarktStadel eG will ein jahrhundertealtes Denkmal in Pittmannsdorf bei Hemau im Landkreis Regensburg aus dem Dornröschenschlaf holen. Sie plant, den denkmalgeschützten Stadel als Standort für Direktvermarktung vornehmlich regionaler landwirtschaftlicher Produkte mit Hilfe von Automaten und eventuell festen Markttagen zu entwickeln. Um Lebensmittel geht es auch bei der faustgrob&piekfein eG, die im vergangenen Jahr gegründet wurde. Sie setzt sich für regionale und nachhaltige Lebensmittelerzeugung im Landkreis Garmisch-Partenkirchen ein.

Neues Leben in alten Mauern

Viel Ausdauer braucht auch das Team der 2022 gegründeten Genossenschaft Alte Schule Bühl eG. Sie will ein Stück Baukultur, ein Stück Geschichte und vor allem ein Stück gebaute Heimat im Allgäu retten. Die Alte Schule mit direktem Blick auf den Alpsee ist ein charakteristisches Landschulhaus aus dem Jahr 1865. Hier haben mehr als 100 Jahre lang Mädchen und Jungen die Schulbank gedrückt, gelernt und gepaukt. Es war einmal ein Ort der Begegnung, des Miteinanders, der Gemeinschaft. Jetzt, rund ein Jahrhundert später, soll dieser Spirit wieder in die alten Mauern einziehen und das Denkmal mit neuem Leben gefüllt werden.

Das historische Gebäude stand im Jahr 2020 kurz vor dem Abriss. Es sollte für ein Dorfgemeinschaftshaus Platz machen. Engagierte Bürgerinnen und Bürger wollten das nicht hinnehmen und riefen eine Initiative ins Leben, den Freundeskreis Alte Schule Bühl. Ein mehr als 150 Jahre altes Gebäude einfach so abreißen, ein Denkmal zerstören, das für Generationen identitätsstiftend war? Für viele unvorstellbar. „Es wäre im Ort eine große Lücke entstanden. Wir bewundern jahrhundertealte Denkmäler im Ausland und in unserer Heimat würden wir unsere eigenen einfach abreißen. Das wollten wir unbedingt verhindern“, sagt Guido Böck, Vize-Vorstand der Alten Schule Bühl eG, rückblickend. Auch für Vorständin Susan Funk war der Abriss undenkbar: „Die Schule steht unter Denkmalschutz. Sie ist ein kostbares Relikt der Vergangenheit“, betont sie.

Aus der Initiative ging schließlich eine Genossenschaft hervor, die der GVB 2022 bei der Gründung begleitete. „Die eG bietet viele Vorteile, wenn es darum geht, Menschen aktiv einzubinden. Mit einem Anteil von 1.000 Euro gehört ein Stück der Alten Schule, ein Stück Vergangenheit, uns allen“, sagt Funk. Mit allen meint die Vorstandsvorsitzende die 150 Genossen, die bereits Anteile gekauft haben.

Ein Ort für Jung und Alt

Gemeinsam entstand die Idee, das Gebäude zu sanieren und für die Allgemeinheit zugänglich zu machen – eine Art Dorfgemeinschaftshaus wie ursprünglich angedacht, ohne dabei die Historie der Alten Schule zu vergessen und den Charme des Alten zu verlieren. Geplant sind ein Café mit Blick über den Alpsee, ein Dorfsaal, der für Hochzeiten, Vereinsfeiern, Taufen oder Veranstaltungen gebucht werden kann, Büroräumlichkeiten für Start-ups und Co-Working-Flächen sowie Manufakturen für lokale Kunsthandwerker. Wichtig ist der Genossenschaft, dass die Alte Schule wieder ein Ort wird, in dem sich Menschen begegnen. „Jung und Alt sollen ihren Platz im Gebäude finden“, betont Funk.

Schulgeschichte: Noch heute sind die alten Schulsäle erhalten. Bis in die 1970er-Jahre drückten hier Mädchen und Jungen die Schulbank. Die Alte Schule wurde 1865 erbaut und 1913 erweitert.  

Zurück in die Vergangenheit: Das Treppenhaus ist im Jugendstil gehalten. Beinahe der gesamte Bestand an Fenstern und Türen ist der Originalausstattung zuzuordnen.

Kulturhistorische Schätze: Unter herausgerissenen Teppichböden sind Originaldielen zum Vorschein gekommen.

Fenster und Türen aus der Jugendstil-Epoche

Wer sich in der Alten Schule umsieht, kann das nur unterschreiben. Hier ist die Zeit stehen geblieben – zum Beispiel in den Schulsälen mit den Holzbänken von damals. Auch im Treppenhaus taucht der Besucher ins frühere Jahrhundert ein. Beinahe der gesamte Bestand an Fenstern und Türen ist aus der Jugendstil-Epoche und im Original erhalten. Unter herausgerissenen Teppichböden und abgetragenen Schichten von Tapeten sind Originaldielen und Wandbemalungen zu sehen. Diese Zeugnisse der Vergangenheit wären beinahe für immer verloren gewesen, hätte sich die Alte Schule Bühl eG nicht für den Erhalt des Denkmals stark gemacht. Die Genossen retten nicht nur ein historisches Kulturgut, sondern sie gestalten gemeinsam ein generationsübergreifendes Projekt für die Zukunft. Und Zukunft braucht Vergangenheit.

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Neues Leben in alten Mauern: Die Alte Schule Bühl eG im Video-Porträt. Video: Xenia Schmeizl und Karl-Peter Lenhard, Genossenschaftsverband Bayern

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