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Am 2. Oktober fällt der Vorhang: Nach insgesamt 103 Vorstellungen enden die Oberammergauer Passionsspiele 2022. Ein letztes Mal stehen dann Hunderte von Menschen auf der großen Bühne des Festspielhauses, auf der fünf Stunden lang die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu erzählt wird. Dazu kommen ein Esel, Pferde, Schafe und Ziegen und Tauben. Insgesamt wirken knapp 2.000 Oberammergauer mit, der halbe Ort also.

Einer von ihnen ist Alexander Raggl. Hauptberuflich berät er Privatkunden bei der VR-Bank Werdenfels. Bei den traditionsreichen Passionsspielen wirkt Raggl schon zum dritten Mal mit: Er spielt ein Mitglied des Hohen Rats. Zu Zeiten Jesu war dies  die oberste religiöse sowie politische Instanz und gleichzeitig das oberste Gericht. „Ich habe als Hoher Rat erstmalig eine umfangreichere Sprechrolle übernommen. Der Rat besteht aus Befürwortern und Widersachern Jesu und ist letztendlich auch für dessen Anklage verantwortlich“, sagt Raggl. Als Inhaber dieser, wie er sagt, „bösen Rolle“ und Ankläger muss der Privatkundenbetreuer die gesamten fünf Stunden der zweiteiligen Aufführung dabei sein.

Bereits die Proben – sie beginnen meist schon im Herbst des Vorjahres -  sind aufwendig und zeitintensiv, berichtet Raggl: „Jeweils drei bis vier Stunden mussten wir für die Proben einplanen,  nach der Arbeit, oder an den Wochenenden. Schon im Vorfeld der Passionsspiele  werden diese zu einem bestimmenden Teil des Lebens“ Das sei für ihn aber ein positiver Stress. Während der Spiele, die von Mai bis Oktober aufgeführt werden, wird es nochmal herausfordernder: „Ich bin nicht doppelt besetzt und bei allen Vorstellungen dabei: Das heißt, zwischen 7:00 Uhr und 7:30 Uhr fange ich in der Bank an. Vormittags  gehe ich zum Corona-Test, dann wieder zurück in die Bank, dann ins Festspielhaus und ab auf die Bühne. In der Pause wieder ins Büro und schließlich wird bis 21 Uhr durchgespielt. Im Hochsommer sogar länger, weil die Aufführungen später beginnen. Da braucht es eine gute Kondition, vor allem aber ein perfektes Zeitmanagement." Zum Glück wohne und arbeite er in Oberammergau, da falle das Hin- und Herfahren zwischen der VR-Bank und dem Festspielhaus nicht so ins Gewicht.

So muss er wegen der umfangreichen Proben im Vorfeld und während der Passionsspiele bei der VR-Bank Werdenfels leider etwas kürzertreten. Vonseiten der VR-Bank Werdenfels gab es von Anfang an eine hundertprozentige Unterstützung für sein Engagement, sagt Raggl. Dafür ist er sehr dankbar. „Es ist ja nicht selbstverständlich, dass der Arbeitgeber mit einem solch aufreibenden Nebenjob einverstanden ist.“ Die Bank sei sehr kulant und ihm in vielerlei Weise entgegengekommen. Er habe seine Arbeitszeit temporär auf 30 Stunden in der Woche verkürzen können. Der spielfreie Werktag gehöre ganz der Bank.

Raggl ist nicht der Einzige aus der Belegschaft der VR-Bank Werdenfels, der bei den Festspielen mitmacht. So erzählt er, dass eine gerade ausgeschiedene Kollegin sogar eine Hauptrolle als Maria Magdalena übernehmen durfte. Vier Arbeitskolleginnen und -kollegen sind bei den sogenannten Volksrollen mit dabei – dann sind oft bis zu 200 Menschen gleichzeitig auf der imposanten Bühne. Ein weiterer Kollege ist bei der hauptamtlichen Passionsspielfeuerwehr im Dauereinsatz. Kurzum: Die Passionsspiele sind für einige Kolleginnen und Kollegen der VR-Bank Werdenfels eine Ausnahmezeit.

An Veränderungen an deren Aussehen müssen sich die Kundinnen und Kunden in dieser Zeit gewöhnen. Es gibt in Oberammergau für die männlichen Mitspieler den sogenannten Barterlass: Mehr als ein Jahr lang bleiben Haare und Bärte quasi ungeschnitten. „Ich sehe natürlich sehr wild aus, aber der Barterlass ist eine alte Tradition, die ich gerne achte“, sagt Bankberater Raggl. Im Berufsalltag führe das zu keinen Schwierigkeiten. Ganz im Gegenteil: Kämen auswärtige Kundinnen und Kunden in die Bank, sei das eher positiv, weil sein Aussehen gleich ein lockerer Aufhänger für ein Beratungsgespräch ist.

Auch das private Umfeld und Hobbys müssen im Passionsspieljahr hintanstehen, an Urlaub ist bis zur letzten Aufführung nicht zu denken. Das Reisen verlegt Raggl deshalb in den Herbst. Zugute kommt ihm und seiner Familie eine Oberammergauer Ausnahmeregelung: Wer bei den Spielen mitmacht, kann einen Antrag stellen, um die Herbstferien für die Schulkinder um eine Woche zu verlängern.

Raggl liegt es spürbar am Herzen, bei den Spielen mitzumachen: Besonders im Hinblick darauf, dass diese jahrhundertealte Tradition fortgeführt wird. Der Ursprung geht auf ein Gelübde zurück, das die Gemeinde vor fast 400 Jahren gegeben hat, um von der in Europa wütenden Pest verschont zu werden. Für den Zusammenhalt der Gemeindemitglieder seien die Spiele bis heute ungemein wichtig: „Sie sind ja inzwischen ein internationales Event, aber immer authentisch geblieben. Auch dadurch, dass nur mitmachen darf, wer seit mindestens 20 Jahren in Oberammergau lebt. Zu Spielzeiten treffe ich oft Menschen, die ich schon zehn Jahre nicht mehr gesehen habe, weil sie zum Beispiel auswärts arbeiten.“ Und selbst wenn es manchmal Diskussionen und kleinere Streitigkeiten in der Truppe gebe: Beim Fallen des Vorhangs zur Premiere seien diese alle vergessen und würden einem „Riesen-Gemeinschaftsgefühl“ weichen.

Und augenzwinkernd fügt der Berater hinzu: „Man kommt natürlich selbst bei Proben und Aufführungen oft auf das Berufliche zu sprechen. Ich könnte fast schon eine Bankfiliale im Passionstheater aufmachen“ – von einfachen Fragen nach dem Zugang zum Online-Banking bis hin zu spontanen Anlagetipps, Alexander Raggl bleibt selbst als Ankläger im Hohen Rat der vertraute Bankberater und nahe am Menschen.

Stichwort nahe am Menschen: Welche Botschaft hat die Geschichte vom Leben und Sterben Jesu - 2.000 Jahre später? Alexander Raggl findet, eine sehr bedeutsame. Die Textfassung der diesjährigen Aufführung habe viele aktuelle Bezüge, Integration zum Beispiel oder die Thematik der kriegerischen Besetzung eines Landes. Gerade heute in Zeiten großer Unsicherheiten aufgrund von Pandemie oder dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sei ein Anstoß für den Glauben wichtig, findet Raggl. Im Hohen Rat spiele zudem ein muslimischer Oberammergauer mit, auch einer der beiden Judas-Darsteller sei Muslim. Noch eine Botschaft ist deshalb für ihn aktueller denn je: „Es gibt viele Konfessionen und Glaubensgemeinschaften. Die großen Weltreligionen haben gemeinsame historische Wurzeln und stimmen in vielem überein. Das Wichtigste ist doch die gegenseitige Toleranz “, sagt der Bankberater. Nicht nur deshalb hat sich Raggl fest vorgenommen, auch 2030 wieder mit auf der Bühne zu stehen.

Die Oberammergauer Passionsspiele

Die 42. Oberammergauer Passionsspiele fanden vom 14. Mai bis 2. Oktober 2022 statt – aufgrund der Corona-Pandemie mit zweijähriger Verspätung.  Gespielt wurde insgesamt 103 Mal, fünfmal die Woche. Das erste Passionsspiel wurde im Jahr 1634 aufgeführt. Es geht auf ein Gelübde von 1633 zurück. Damals schworen die Bewohner, regelmäßig das Leiden und Sterben Christi darzustellen, sofern niemand mehr an der Pest stirbt. Das heutige Festspielhaus bietet Platz für rund 4.300 Besucherinnen und Besucher. Oberammergau hat rund 5.500 Einwohner. Jeder der rund 2.100 Mitwirkenden ist in Oberammergau geboren oder lebt mindestens seit 20 Jahren dort. Davon ausgenommen sind Kinder. An die 450 Mädchen und Jungen sind auch mit dabei.

Spielleiter ist zum vierten Mal Christian Stückl. Die Originalmusik komponierte 1811/1815 Rochus Dedler. Die 20 Hauptrollen sind doppelt besetzt. Zudem gibt es weitere 120 Sprechrollen. Dazu kommen Statisten. Viele Oberammergauer wirken in Chor und Orchester mit, engagieren sich im Einlassdienst oder als Garderobieren. Etwa 450.000 Zuschauer aus der ganzen Welt waren bei den Festspielen. Die Passion ist ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor für die Gemeinde. 2010 bescherten die Spiele der Kommune einen Rekordgewinn von 37,9 Millionen Euro.  (Quelle: KNA)

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