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„Lassen Sie die Stunde nicht vorübergehen, ohne daß Sie sich vornehmen, Darlehenskassenvereine zu gründen. Mit jedem Vereine, welchem Sie das Leben geben, setzen Sie sich ein unvergängliches Denkmal des Ruhmes und der Dankbarkeit, denn: ,Edel sei der Mensch, hilfreich und gut', denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.“

Ein Redner auf der Generalversammlung des landwirthschaftlichen Kreisvereins und des landwirthschaftlichen Bezirksfestes zu Obernburg am Main (Kreis Miltenberg) im Oktober 1879.

Nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 verschlechterte sich die Lage der ländlichen Bevölkerung zunehmend. Der Börsenkrach des Jahres 1873, als nach einer Phase der Spekulation überbewertete Unternehmen und Banken zusammenbrachen, beendete nicht nur die Euphorie der Gründerjahre seit 1871, sondern auch die bis dahin anhaltende hohe Nachfrage nach Lebensmitteln, die den deutschen Landwirten ein leidliches Auskommen beschert hatte. Der deutsche Markt wurde überschwemmt mit günstigem Getreide aus Russland und Amerika, so dass der Getreidepreis gerade noch die Produktionskosten deckte. Die Reichsregierung versuchte zwar, den Preisverfall durch die Erhöhung der Einfuhrzölle einzudämmen, konnte sich jedoch gegen den Druck der marktbestimmenden Großindustrie nicht durchsetzen.

Kredite gab es nur zu Wucherzinsen

Um ihre Höfe weiterhin bewirtschaften zu können, benötigten die bayerischen Bauern Kapital.

Die Kreditaufnahme stand der ländlichen Bevölkerung bei den damaligen Banken jedoch nicht offen, so dass ihnen nur die private Aufnahme von Krediten zu Wucherzinsen möglich war. Oftmals gerieten die Bauern dadurch in eine Schuldenspirale, die nicht selten die Zwangsversteigerung ihrer Höfe nach sich zog.

Nachdem sich die Genossenschaftsidee nach Friedrich Wilhelm Raiffeisen bis 1880 vom Rheinland aus bereits in weiten Teilen des Deutschen Reichs ausgebreitet hatte, fasste sie in Bayern nur allmählich Fuß. Hier zeigte sich Unterfranken als Vorreiter und idealer Standort für die ersten bayerischen Raiffeisenvereine. Ursächlich für die raschere Durchsetzung des Genossenschaftsgedankens in der Region rund um Aschaffenburg waren mehrere Faktoren. Zum einen hatte die geographische Nähe zum damaligen Großherzogtum Hessen einen großen Einfluss. Dort war Raiffeisens Gedankengut besonders schnell aufgegriffen und umgesetzt worden. Zum anderen war die Kreditnot bei den unterfränkischen Kleinbauern besonders groß.

Hilfe von den landwirtschaftlichen Kreis-Comités

Positiv wirkte sich auch die wohlwollende Haltung des Regierungspräsidenten von Unterfranken und Aschaffenburg, Friedrich Graf von Luxburg, gegenüber dem Genossenschaftswesen aus. Dieser förderte in seiner Amtszeit vor allem die Landwirtschaft und setzte sich an der Spitze des „Kreis-Comités des Landwirthschaftlichen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg“ für die Etablierung des Genossenschaftsgedankens ein. 

Der Landwirthschaftliche Verein in Bayern (Vorgänger des Bayerischen Bauernverbands) und seine Kreis-Comités trugen maßgeblich dazu bei, dass sich das Genossenschaftswesen erst in Unterfranken und dann in ganz Bayern ausbreiten und letztendlich erfolgreich etablieren konnte. Sie setzten sich seit 1810 für die Belange und Interessen der ländlichen Bevölkerung ein, bemühten sich vor allem um die Bildung der Landwirte und waren erste Ansprechpartner für Genossenschaftsgründer. Im Aufbau von Genossenschaften sah der Landwirthschaftliche Verein ein wirksames Mittel zur Lösung der wirtschaftlichen Not der ländlichen Bevölkerung. 

Deshalb empfahl das Kreis-Comité des Landwirtschaftlichen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg ab Mitte der 1880er Jahre in seiner Publikation „Der fränkische Landwirth“ wiederholt die Gründung von Darlehenskassen-Vereinen, „um dem fast gänzlich geschwundenen Personalkredit des Bauernstandes wieder auf die Beine zu helfen, und damit der so sehr nachtheiligen Geldnoth desselben für immer eine Ende zu machen“. Die unterfränkischen Kleinbauern sollten sich an der Entstehung von Darlehenskassenvereinen beteiligen, statt sich „an den ein oder anderen dunklen Ehrenmann zu wenden“. Nicht nur in ihren Publikationen, auch auf Wanderversammlungen warben Vertreter des Kreis-Comités für die Gründung von Darlehenskassenvereinen. 

Lehrer und Geistliche als „natürliche Leiter“

Unterstützung suchte und fand der Landwirthschaftliche Verein zumeist bei den Gemeindepfarrern und Lehrern, den „natürlichen Leitern der Vereine“. Das starke Engagement der Geistlichen beider Konfessionen und ihre Fähigkeit, die zum Teil sehr kritischen Bauern von den Vorteilen der Genossenschaftsidee zu überzeugen, ist nicht nur auf deren sozialpolitisches Amtsverständnis zurückzuführen.

Als einzige Intellektuelle des Orts trauten die Landwirte ihnen auch die Lösung ihrer praktischen Probleme zu, zumal sie oftmals selbst ihren kargen Verdienst aufbessern und ihren Pfarrhof „im Schweiße ihres Angesichts“ selbst bestellen mussten. Von dem Verfall der Getreidepreise waren sie ebenso betroffen wie die von der Not bedrohten Bauern ihrer Gemeinden.

Die erste Gründung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft auf bayerischem Boden ist im Wesentlichen dem Winzer Kilian Wallrapp zu verdanken. Am 14. November 1877 gründete er, unterstützt von der Regierung und dem Landwirthschaftlichen Verein, den ersten Darlehenskassenverein nach den Ideen Raiffeisens in Theilheim bei Würzburg. Rechtsnachfolgerin ist heute die Volksbank Raiffeisenbank Würzburg. Damit war der Anfang gemacht: Bereits 1878 wurde der zweite bayerische Darlehenskassenverein in Hösbach bei Aschaffenburg auf Initiative des dortigen Pfarrers gegründet. Er ging später in der heutigen Raiffeisenbank Aschaffenburg auf.

38 Darlehenskassenvereine nach nur vier Jahren

Nur vier Jahre nach der ersten Gründung in Theilheim gab es in Unterfranken bereits 38 Darlehenskassenvereine. Diese organisierten sich bereits seit 1880 gemeinsam in einem Verband. Zwar hatte sich Raiffeisen persönlich um einen Anschluss dieser Vereine an die Zentralorganisation in Neuwied bemüht, doch die Unterfranken wollten ihre Selbstständigkeit bewahren und lehnten den Anschluss an eine „preußische“ Institution ab. Vor allem die katholischen Gebiete Unterfrankens wähnten sich seit der Reichsgründung 1871 und der damit zusammenhängenden Zentralisierung zugunsten Berlins einer zunehmenden „Verpreußung“ ausgesetzt. Besonders der katholische Geistliche Joseph Kolb aus Prosselsheim setzte sich für die Verbreitung der Genossenschaftsidee ein, gleichzeitig pochte er auf die Unabhängigkeit der unterfränkischen Vereine. Auf seine Initiative hin gründeten die unterfränkischen Darlehenskassenvereine im Oktober 1882 den ersten bayerischen Landesverband, der als Geldausgleichsstelle sowie Vermittlungsstelle für den Kauf landwirtschaftlicher Produkte diente.

„Unbezahlbarer Apostel“ der Genossenschaftsidee

Kolb gründete auch selbst einige Darlehenskassenvereine, etwa an seinem Wirkungsort Prosselsheim. Für dieses Engagement wurde er von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der den Prosselsheimer Verein im Mai 1880 persönlich besuchte, als „ganz unbezahlbarer Apostel“ der Genossenschaftsidee gewürdigt. Bezeichnend dafür ist auch ein „Öffentlicher Aufruf an Kapitalisten“, den Kolb im August 1879 in der Zeitschrift „Der fränkische Landwirth“ veröffentlichte:

Aufruf des Pfarrers Joseph Kolb aus Prosselsheim

Oeffentlicher Aufruf an Kapitalisten. Alle edlen Menschenfreunde, welche in der glücklichen Lage sich befinden, Kapitalien hinzuleihen, und denen das Gebot der christlichen Nächstenliebe noch heilig ist, werden hiermit freundlichst gebeten, den von dem Unterzeichneten jüngst gegründeten Darlehens-Cassavereinen in Prosselsheim und Neusetz (…), welch beide Gemeinden durch das entsetzliche Hagelwetter vom 29. Juni d. J. so schwer betroffen wurden, daß sie ihre sämmtlichen Getreide- und Futterfrüchte verloren und hiedurch in eine solche Nothlage geriethen, daß sie mit tiefem Kummer und schweren Sorgen der nächsten Zeit entgegensehen, ihre disponiblen und zum Ausleihen bestimmten Kapitalien gütigst zuwenden zu wollen, um sie in den Stand zu setzen, den durch dieses Unglück heimgesuchten und bedrängten Ortsnachbarn durch Geldvorschüsse auf mehrere Jahre zu helfen, damit dieselben nicht, durch die Noth gedrängt, in die Hände der zudringlichen und herzlosen Wucherer fallen und durch diese über kurz oder lang auf die Gant kommen.“ (…)
Quelle: „Der fränkische Landwirth“ Nr. 8, August 1879

Die heute nicht mehr gebräuchliche Redensart „auf die Gant kommen“ umschreibt die Überschuldung beziehungsweise Zahlungsunfähigkeit einer Person, die mit der öffentlichen Zwangsversteigerung ihrer verbleibenden Besitztümer endet. Erst mit der Verbreitung von Raiffeisens Ideen und dem Aufkommen der Darlehenskassenvereine hatten die Genossenschaftsgründer ein Mittel gefunden, der Not der ländlichen Bevölkerung etwas entgegenzusetzen – damit sie durch Missernten und Wucherzinsen eben nicht mehr „auf die Gant“ kamen, sondern in ihre Betriebe investieren konnten.

Heute gehören dem Genossenschaftsverband Bayern insgesamt 1.260 genossenschaftliche Unternehmen im Freistaat an, darunter 244 Volksbanken und Raiffeisenbanken sowie 1.016 ländliche und gewerbliche Unternehmen mit insgesamt rund 50.000 Beschäftigten und 2,9 Millionen Mitgliedern (Stand 31. Dezember 2017). Damit bilden die bayerischen Genossenschaften eine der größten mittelständischen Wirtschaftsorganisationen im Freistaat. Die Keimzelle für das bayerische Genossenschaftswesen liegt dabei in Unterfranken. Nachdem sich die Idee dort etabliert hatte, setzte sie sich zu Beginn der 1880er Jahre auch in den übrigen Regionen Bayerns durch. So haben die unterfränkischen Genossenschaftspioniere wie der Pfarrer Joseph Kolb, der Winzer Kilian Wallrapp oder der unterfränkische Regierungspräsident Friedrich Graf von Luxburg nicht nur ihren Landsleuten einen großen Dienst erwiesen, sondern letztlich dem gesamten Freistaat.

Sana‘a Wittmann ist Mitarbeiterin des Historischen Vereins Bayerischer Genossenschaften.

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