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Herr Müller, Deutschland übernimmt im zweiten Halbjahr 2020 den EU-Ratsvorsitz von Kroatien. Welche Aufgaben sind damit konkret verbunden?

Manuel Müller: Die Ratspräsidentschaft bedeutet vor allem, dass die deutsche Bundesregierung bei Treffen im Rat der Europäischen Union – also auf Ministerebene und in zahlreichen zwischenstaatlichen Arbeitsgruppen – den Vorsitz führen wird. Das ist zunächst einmal mit vielen organisatorischen Aufgaben verbunden, mit denen Deutschland als großes Land mit einer effizienten Ministerialbürokratie aber kaum Probleme haben dürfte. Außerdem erlaubt es der Ratsvorsitz, in gewissem Umfang gestalterisch tätig zu sein und eigene Schwerpunkte zu setzen.
 

Wie stark wird dieser Gestaltungsspielraum von den Ratspräsidentschaften genutzt?

Müller: Die gestaltende Funktion war früher wichtiger als heute. Das liegt vor allem daran, dass es im Europäischen Rat – also auf Ebene der Staats- und Regierungschefs – seit 2009 einen festen, für zweieinhalb Jahre gewählten Ratspräsidenten gibt, derzeit den Belgier Charles Michel. Weitreichende politische Richtungsentscheidungen werden inzwischen eher von diesem festen Ratspräsidenten vorbereitet. Trotzdem wäre es falsch, den deutschen Ratsvorsitz als politisch unbedeutend abzutun. Er wird sich in vielen Details bemerkbar machen, und er bringt natürlich auch eine besondere öffentliche Sichtbarkeit für die deutsche Europapolitik.
 

Welche Rolle spielt die Ratspräsidentschaft im Brüsseler Zusammenspiel von Rat, Kommission und Parlament?

Müller: Rat, Kommission und Parlament sind drei Organe mit jeweils eigener politischer Legitimität, die entsprechend auch ihre jeweils eigene politische Agenda verfolgen. Damit die EU vorankommt, müssen aber in der Regel alle drei zu einer gemeinsamen Position finden. In der Gesetzgebung hat dabei die Europäische Kommission das Initiativmonopol, nur sie kann EU-Rechtsakte vorschlagen. Damit diese Rechtsakte zustande kommen, müssen sich dann Parlament und Rat darüber einig werden. Hierfür gibt es die sogenannten Triloge. Dort suchen die drei Organe informell eine gemeinsame Position. In diesen Trilogen kommt der Ratspräsidentschaft eine wichtige Rolle zu, da sie im Auftrag des Rats die Verhandlungen mit Kommission und Parlament führt. Die Ratspräsidentschaft hat dadurch Einfluss auf die Ausgestaltung von Zeitplänen und Kompromissen – wenn auch keine harte politische Entscheidungsmacht.

Ähnlicher Name – unterschiedliche Aufgaben

Im Rat der Europäischen Union („Rat“) kommen Minister aus allen EU-Ländern zusammen, um Rechtsvorschriften zu diskutieren, zu ändern und anzunehmen. Halbjährlich übernimmt ein anderes EU-Mitgliedsland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union – die sogenannte Ratspräsidentschaft. Im Rat der Europäischen Union koordinieren die Minister ihre Politikbereiche. Alle auf den Ratstagungen anwesenden Minister sind befugt, für die Regierungen der von ihnen vertretenen Mitgliedsstaaten verbindlich zu handeln. Zusammen mit dem Europäischen Parlament ist der Rat der Europäischen Union das Hauptbeschlussorgan der EU. Er hat keine festen Mitglieder, sondern tritt in zehn verschiedenen Konfigurationen zusammen, je nach Politikbereich. Zu diesen Treffen sendet jedes Mitgliedsland den jeweils für das anstehende Thema zuständigen Minister. Wenn der Rat also zum Beispiel über Wirtschaft und Finanzen berät – der so genannte Ecofin-Rat –, kommen die Finanzminister der EU-Mitgliedsländer zusammen.

Der Europäische Rat legt hingegen die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU fest. Seine Mitglieder sind die Staats- und Regierungschefs der 27 EU‑Mitgliedsstaaten, der Präsident des Europäischen Rats und der Präsident der Europäischen Kommission. Der Europäische Rat gehört nicht zu den Gesetzgebungsorganen der EU und erörtert oder verabschiedet daher keine EU-Rechtsvorschriften. Er bestimmt vielmehr die politische Agenda der EU. Hierzu nimmt er auf seinen Tagungen („EU-Gipfel“) jeweils sogenannte „Schlussfolgerungen“ zu wichtigen anstehenden Themen und den zu ergreifenden Maßnahmen an. Der Europäische Rat entscheidet in der Regel im Konsens. In besonderen Fällen, die in den EU-Verträgen dargelegt sind, entscheidet er jedoch einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit.

Der Rat hat in Brüssel eigene umfassende Verwaltungskapazitäten aufgebaut, um die politische Agenda voranzutreiben. Wo spielt die Musik wirklich – in den Hauptstädten der Ratspräsidentschaften oder in Brüssel?

Müller: Das Ratssekretariat in Brüssel arbeitet sowohl dem Präsidenten des Europäischen Rats als auch dem rotierenden Ratsvorsitz zu. Es existiert schon seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft, hat aber in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, um zwischen den halbjährlich rotierenden Ratsvorsitzen für einen roten Faden zu sorgen. Wie so oft in der Europapolitik spielt die Musik nicht an einem einzelnen Ort. Es ist ein Orchesterwerk.
 

Die deutsche Ratspräsidentschaft wird federführend von der Bundesregierung und den Ministerien in Berlin gestaltet. Welche Möglichkeiten hat der Deutsche Bundestag, sich einzubringen?

Müller: Der Bundestag hat verschiedene gesetzlich verankerte Mitwirkungsrechte, über die er Einfluss auf die Europapolitik der Bundesregierung und damit indirekt natürlich auch auf die Ratspräsidentschaft ausüben kann. Hinzu kommen im Rahmen der Ratspräsidentschaft noch einige besondere Aufgaben: Es gibt in der EU regelmäßig tagende interparlamentarische Gremien, bei denen sich Abgeordnete der Parlamente aller Mitgliedsstaaten und des Europäischen Parlaments austauschen – zum Beispiel zu Fragen der Außenpolitik oder zur wirtschaftspolitischen Koordinierung. Bei diesen Konferenzen tritt der Bundestag während der deutschen Ratspräsidentschaft als Gastgeber auf. Allerdings ist die konkrete politische Macht dieser interparlamentarischen Gremien überschaubar.

Deutschland macht den Anfang des nächsten „Dreiervorsitzes“: Gemeinsam mit Portugal und Slowenien wird es die Ziele des Rats bis Ende 2021 bestimmen. Welche Herausforderungen erwarten Deutschland in Bezug auf seine Ratspräsidentschaft?

Müller: Der deutsche Ratsvorsitz fällt ohne Zweifel in eine Zeit mit vielen schwer planbaren Herausforderungen: Erstens läuft Ende Dezember 2020 die Brexit-Übergangsphase aus, sodass bis dahin ein neues Abkommen mit Großbritannien unterzeichnet und ratifiziert werden muss. Zweitens muss bis dahin auch der neue mehrjährige Finanzrahmen stehen. Eine grundsätzliche Einigung darüber wird zwar schon für März angestrebt, aber falls sie scheitert, könnte das Thema leicht auch die zweite Jahreshälfte beherrschen. Drittens ist unklar, wie weit die Justizkrise in Polen in den nächsten Monaten noch eskalieren wird. Außenpolitisch stehen die Präsidentschaftswahlen in den USA an, außerdem will die EU im September auf einem Sondergipfel in Leipzig zu einer gemeinsamen Position gegenüber China finden. Und natürlich hat auch die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen eine ambitionierte Agenda angekündigt – insbesondere zum europäischen „Green Deal“, aber auch zur Digitalisierung und anderen Themen. Schon deshalb wird die deutsche Ratspräsidentschaft diesmal nicht von dem einen großen Thema geprägt sein. Es geht eher darum, in vielen Bereichen möglichst gut voranzukommen, längerfristige Entwicklungspfade vorzubereiten und auf allfällige Krisen reagieren zu können.

Die EU will außerdem die Wirtschafts- und Währungsunion vertiefen. Dazu gehört die Vollendung der Bankenunion einschließlich der Vergemeinschaftung der europäischen Einlagensicherungssysteme (EDIS). Erwarten Sie bei diesen Themen unter deutscher Ratspräsidentschaft inhaltliche Bewegung?

Müller: Bei der europäischen Einlagensicherung ist die Bundesregierung lange Zeit als Blockierer aufgetreten. Sie hat damit aber nur noch größeren Druck der anderen EU-Mitgliedsstaaten und der Kommission erzeugt, die in der Einlagensicherung einen wesentlichen Baustein für die Stabilisierung der Währungsunion sehen. Im vergangenen Herbst hat Finanzminister Olaf Scholz schließlich Kompromissbereitschaft signalisiert. Es ist nicht auszuschließen, dass die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft die Blockadehaltung aufgibt, um dadurch Einfluss auf die Ausgestaltung der Einlagensicherung zu nehmen.

„Deutschland hat eine besondere Verantwortung, eine Führungsrolle einzunehmen, ohne andere zu dominieren.“

Was erwarten die anderen EU-Länder von der deutschen Ratspräsidentschaft?

Müller: Als einwohnerreichstes und wirtschaftsstärkstes Land hat Deutschland eine besondere Verantwortung, gerade in Krisenzeiten eine Führungsrolle einzunehmen, ohne dabei die anderen EU-Länder zu dominieren. Allerdings ist auch allgemein bekannt, dass in Deutschland spätestens 2021 Bundestagswahlen stattfinden werden, das deutsche Parteiensystem in Bewegung ist und die Regierungsparteien deshalb viel mit sich selbst beschäftigt sind.
 

Das klingt nicht gerade nach hohen Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft…

Müller: Schon in den letzten Jahren hat sich die deutsche Europapolitik eher durch eine reaktiv-defensive Haltung als durch herausragende eigene Initiativen ausgezeichnet. Insofern würde sich sicher manch einer wünschen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft starke Impulse für eine Vertiefung der EU gäbe. Die Erwartungen beschränken sich aber wohl eher auf ein handwerklich und organisatorisch solides Management der zahlreichen Herausforderungen, mit denen die EU in diesem Jahr konfrontiert ist.

Mit Ursula von der Leyen steht eine Deutsche an der Spitze der EU-Kommission. Spielt das für die deutsche Ratspräsidentschaft eine Rolle?

Müller: Hoffentlich nicht. Natürlich gibt es da enge persönliche Verbindungen – Ursula von der Leyen war ja viele Jahre lang selbst Mitglied dieser Bundesregierung. Aber die Europäische Kommission ist nach dem EU-Vertrag nur dem gemeinsamen europäischen Interesse verpflichtet und hat ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit von den nationalen Regierungen auszuüben. Eine privilegierte Zusammenarbeit aufgrund der nationalen Herkunft der Kommissionspräsidentin wäre damit nicht zu vereinbaren.

„Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eines der spannendsten, aber auch offensten aktuellen Vorhaben der EU.“

Die EU-Kommission will die Stimme der Europäer besser hören und hat dazu eine Konferenz zur Zukunft Europas einberufen. Der Auftakt ist am 9. Mai 2020. Wird diese Konferenz für die deutsche Ratspräsidentschaft wichtig?

Müller: Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eines der spannendsten, aber auch offensten aktuellen Vorhaben der EU. Vor allem im Europäischen Parlament erhoffen sich viele von ihr entscheidende Fortschritte für die europäische Demokratie. Unter den nationalen Regierungen sähen es hingegen einige recht gern, wenn die Konferenz möglichst ergebnislos verpuffen würde. Die Bundesregierung hat sich dabei bislang recht konstruktiv gezeigt, etwa als sie im vergangenen Herbst zusammen mit Frankreich eigene Vorschläge zur Ausgestaltung der Konferenz vorgelegt hat. Welche formalen Aufgaben die Ratspräsidentschaft bei der Konferenzleitung haben wird, muss sich erst noch zeigen – die Arbeitsweise der Konferenz wird derzeit noch zwischen Rat, Parlament und Kommission ausgehandelt. Jedenfalls sollte die Bundesregierung ihren Ratsvorsitz aber nutzen, um im Rat insgesamt auf eine aufgeschlossene Haltung gegenüber der Konferenz hinzuarbeiten.

Die Konferenz zur Zukunft Europas

Die Stimme der Europäer soll beim Handeln der Europäischen Union besser gehört werden. Das ist das Ziel der Konferenz zur Zukunft Europas. Dazu schlägt die EU-Kommission neue Elemente der Diskussion vor, wie etwa eine mehrsprachige Online-Plattform, um den Menschen bessere Möglichkeiten zur Mitgestaltung zu geben. Inhaltlich sollten sich die Debatten an den politischen Prioritäten der EU wie Klimawandel und soziale Gerechtigkeit orientieren. Zudem sollten auch institutionelle Fragen wie das Spitzenkandidaten-System diskutiert werden. Beginnen soll die Konferenz am Europatag, also am 9. Mai 2020. Sie soll für zwei Jahre laufen. „Die Menschen müssen im Mittelpunkt unserer gesamten Politik stehen. Ich wünsche mir daher, dass sich alle Europäer aktiv in die Konferenz zur Zukunft Europas einbringen und ihnen eine maßgebliche Rolle bei der Festlegung der Prioritäten der Europäischen Union zukommt. Nur gemeinsam können wir unsere Union von morgen aufbauen“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung der Konferenz.

Das letzte Mal hatte Deutschland im ersten Halbjahr 2007 die Ratspräsidentschaft inne – schon damals im Dreiervorsitz mit Portugal und Slowenien. Welchen Eindruck hat Deutschland damals in der EU hinterlassen?

Müller: Die letzte deutsche Ratspräsidentschaft war vor allem von dem Ziel geprägt, nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrags die institutionelle Reform wiederaufzunehmen. In Erinnerung geblieben ist besonders die „Berliner Erklärung“ zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März 2007. Unter der darauffolgenden portugiesischen Ratspräsidentschaft mündete diese Initiative in den heute noch gültigen Vertrag von Lissabon. Für Angela Merkel, die damals ja erst seit zwei Jahren im Amt war, war das ein großer politischer Erfolg.

Im ersten Halbjahr 2007 ahnte noch niemand, wie stark die weltweite Finanzkrise und die nachfolgende Staatsschuldenkrise in Europa den Zusammenhalt in der EU auf die Probe stellen würden. Wie hat sich die Rolle der Ratspräsidentschaft seitdem verändert?

Müller: Die wichtigste Veränderung für die Rolle der Ratspräsidentschaft hat weniger mit der Finanz- und Schuldenkrise zu tun als eben mit dem Vertrag von Lissabon: In ihm wurde 2009 das Amt des festen Ratspräsidenten eingeführt, wodurch der rotierende Ratsvorsitz an Bedeutung verloren hat. Gleichzeitig sorgten die diversen Krisen seit 2007 insgesamt für eine höhere Sichtbarkeit europäischer Fragen. Bei den Bürgern kam es zu einer stärkeren politischen Polarisierung – heftigerer Kritik, aber auch leidenschaftlicherer Unterstützung. Europa gilt immer weniger als eine Angelegenheit für Technokraten, sondern als ein hochpolitisches Feld, was natürlich auch die Ansprüche an demokratische Legitimation und Transparenz erhöht.
 

Mit anderen Worten, der Ratspräsidentschaft fehlt für eine starke gestaltende Rolle die demokratische Legitimation?

Müller: Aus dieser Perspektive ist der Bedeutungsverlust des Ratsvorsitzes durchaus angemessen. Auf organisatorischer Ebene kommt ihm eine wichtige Aufgabe zu, und es ist durchaus pragmatisch, diese Rolle zwischen den Regierungen rotieren zu lassen. Aber auf politischer Ebene ist es sinnvoll, dass die EU nicht durch die Regierung irgendeines Mitgliedsstaats repräsentiert wird, sondern von Personen, die durch eine gemeinsame gesamteuropäische Wahl legitimiert sind.
 

Herr Müller, vielen Dank für das Interview!

Manuel Müller (*1984) ist Wissenschaftlicher Referent der Geschäftsführung am Institut für Europäische Politik in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem politischen System, der demokratischen Legitimation und der institutionellen Reform der Europäischen Union. Zudem betreibt er den Blog „Der (europäische) Föderalist“, auf dem er ausgehend von tagesaktuellen Ereignissen und Debatten Aspekte der europäischen und globalen Verfassungspolitik analysiert.

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