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Titelfoto

Das Foto zeigt Sandra Bindler (li.), Vorstandsvorsitzende der Münchner Bank eG, sowie Edith Plöthner-Scheibner, Archivarin beim Genossenschaftsverband Bayern, die von der Münchner Bank eG beauftragt ist, das Archiv zu verwalten. Sie präsentieren einen Originalbrief von Hermann Schulze-Delitzsch. „Es ist eine Ehre, dass unser Institut solche Dokumente besitzt. Auch auf der Gründungsurkunde der Genossenschaft hat Schulze-Delitzsch mitunterzeichnet“, betont Bindler. Um den Brief nicht zu beschädigen, hat sie weiße Handschuhe angezogen. „Da ist schon etwas Respekt dabei, so ein Dokument von unserem Genossenschaftspionier in den Händen zu halten“, sagt die Vorstandsvorsitzende.

Ein wahrer Schatz für alle, die an Genossenschaftsgeschichte interessiert sind: Im Archiv der Münchner Bank eG liegen elf Originalbriefe von Hermann Schulze-Delitzsch aus dem Zeitraum zwischen 1869 und 1874. Adressiert sind sie an Franz Xaver Proebst, einen Urvater der bayerischen Genossenschaftsbewegung. „Profil“ hat den 215. Geburtstag von Hermann Schulze-Delitzsch am 29. August 2023 zum Anlass genommen, die Briefe unter die Lupe zu nehmen. Wie kam der Kontakt zustande? Und worum ging es in der Korrespondenz?

Warum besitzt die Münchner Bank eG Originalbriefe von Hermann Schulze-Delitzsch?

Die Münchner Bank eG wurde 1862 als „Münchener Darlehen-Verein mit Solidarhaft“ gegründet, ab 1865 firmierte sie als „Münchener Industrie-Bank“. Franz Xaver Proebst, der mit Hermann Schulze-Delitzsch eine Briefkorrespondenz unterhielt, war von 1877 bis zu seinem Tod im Jahr 1910 im Aufsichtsrat des Kreditinstituts tätig, ab 1889 als stellvertretender Vorsitzender sowie ab 1890 als Vorsitzender. Insofern gibt es eine enge Beziehung zwischen Proebst und der Bank, die Korrespondenz gelangte vermutlich aufgrund seiner Funktion als Aufsichtsrat in die Unterlagen der Bank. Die Schreiben wurden viele Jahre lang unbeachtet aufbewahrt und gerieten in Vergessenheit, bis Antonie Ruhland, langjährige Leiterin der Presseabteilung sowie Sekretärin von Vorstand Jürgen Partenheimer, ein Firmenarchiv für die Münchner Bank eG aufbaute. Bei ihrer Recherche hat sie die Briefe wiederentdeckt. Erstmals publiziert wurden die Schriftstücke 2006 im Band 7 der „Schriftenreihe zur Genossenschaftsgeschichte“, herausgegeben von Historischen Verein bayerischer Genossenschaften.

Hermann Schulze-Delitzsch (1808 bis 1883) ist neben Friedrich Wilhelm Raiffeisen der bekannteste Gründervater des deutschen Genossenschaftswesens. Er initiierte das noch heute gültige Genossenschaftsgesetz und gründete den ersten Genossenschaftsverband in Deutschland. Hingegen ist Franz Xaver Proebst (1829 bis 1910) heute größtenteils in Vergessenheit geraten. Proebst, der unter anderem als Direktor des Statistischen Amts der Stadt München tätig war, gilt als der Vater der bayerischen Konsumvereine und war maßgeblich an zahlreichen Genossenschaftsgründungen im Königreich beteiligt. Sein Motiv war es, die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen zu lösen und die Armut in den Städten zu lindern.

Zudem engagierte sich Proebst stark beim Aufbau von genossenschaftlichen Strukturen in Bayern. Beispielsweise war er ab 1868 ehrenamtlicher Vorstand des Münchener Consum-Vereins sowie ab 1871 Direktor des Verbandes süddeutscher Consum-Vereine. Er unterstützte Schulze-Delitzschs Bemühungen, in Bayern das Reichs-Genossenschaftsgesetz einzuführen. Zudem hatte Proebst maßgeblichen Anteil an der Gründung des Bayerischen Genossenschaftsverbands im Jahr 1877. Er wurde erster Direktor des Verbands und hatte diese Position bis 1904 inne.

„Verehrter Freund“

Hermann Schulze-Delitzsch und Franz Xaver Proebst haben sich von 1869 bis zu Schulze-Delitzschs Tod im Jahr 1883 regelmäßig ausgetauscht, zunächst per Brief, später persönlich. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen beiden und so redete ab 1873 Schulze-Delitzsch Proebst als "Verehrter Freund" an.

Doch wie kam der Kontakt zustande? In den späten 1860er Jahren wurden in Bayern die ersten Genossenschaften nach dem Modell von Schulze-Delitzsch gegründet. Dieser reiste selbst mehrmals nach Bayern: Beispielsweise nahm er an einer Versammlung von Vertretern eines südbayerischen und elf fränkischer Genossenschaftsvereine am 28. Juni 1867 teil. Dort wurde ein „Unterverband in den fränkischen Ländern“ gegründet – der erste genossenschaftliche Verband in Bayern. Bei einer oder mehreren der Reisen muss ein Mitglied der Consum-Genossenschaft aus Erlangen die Bekanntschaft von Schulze-Delitzsch gemacht haben. Denn im Dezember 1869 schreibt dieses Mitglied einen Brief an Franz Xaver Proebst und schlägt vor, Kontakt mit Schulze-Delitzsch aufzunehmen.

Der erste Brief von Schulze-Delitzsch an Proebst

Proebst nimmt diesen Vorschlag an und schreibt an Schulze-Delitzsch. Dieser Brief liegt nicht im Archiv der Münchner Bank eG – doch das Antwortschreiben von Schulze-Delitzsch, datiert auf den 18. Dezember 1869, ist erhalten. Schulze-Delitzsch bedankt sich darin für das hohe Interesse am Genossenschaftswesen: „Es ist mir sehr erfreulich, in Ihnen einen Mitarbeiter auf genossenschaftlichem Felde kennen gelernt zu haben, der sich nicht darauf beschränkt, den Interessen eines einzelnen Vereins zu dienen, sondern allgemeine Gesichtspunkte dabei auch im Auge hat und die Genossenschaftsbewegung im Ganzen zu fördern bemüht ist.“

Schulze-Delitzsch bietet Proebst an, an den von ihm herausgegebenen „Blättern für Genossenschaftswesen“ mitzuarbeiten (Diesen Vorschlag nimmt Proebst gerne an, er wird im Laufe der Zeit mehrere Artikel in der Zeitschrift publizieren). Zudem nimmt Schulze-Delitzsch in dem Brief Stellung zu einem Thema, das die Genossenschaftspioniere damals umgetrieben hat: Die sogenannte Solidarhaft. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die Mitglieder der Genossenschaft mit all ihrem Hab und Gut für die Genossenschaft einstehen und bürgen sollen. Schulze-Delitzsch machte sich für eine unbeschränkte Solidarhaft stark.

Grundsatzfragen im Vordergrund

In den weiteren Briefen tauschen sich Schulze-Delitzsch sowie Proebst über Grundsatzfragen aus. Ein Beispiel: Ende 1869 schickte Proebst einen Entwurf mit der Neufassung der Statuten des Münchener Consumvereins an Schulze-Delitzsch. Dieser hatte Einwände: „Sie haben sich, wogegen ja auch nichts einzuwenden ist, an keines der vorhandenen Musterstatuten für Consumvereine angeschlossen, sind aber dabei doch zu einzelnen Abweichungen gekommen, die ich entschieden für bedenklich halte und abzuändern empfehle.“

In der Folge listet Schulze-Delitzsch mehrere aus seiner Sicht kritische Punkte auf. So sah der Entwurf von Proebst etwa vor, dass die Mitglieder jederzeit ohne vorausgegangene Kündigung ausscheiden können und einen Monat später ihre Anteile zurückerhalten. Schulze-Delitzsch riet von dieser Praxis ab. Seine Argumentation: Genossenschaften wären in ihrer Existenz bedroht, wenn zum Beispiel viele Mitglieder als Folge einer Streitigkeit ihren Austritt erklären würden. „Die Kündigungsfrist für die Mitgliedschaft muß so lange bemessen werden, daß der Verein bei zahlreichen Kündigungen Zeit gewinnt, für die Ermäßigung der Verwaltungskosten zu sorgen“, betont Schulze-Delitzsch.

Konsumgenossenschaften und Genossenschaftsgesetz

Die Frage nach der passenden Organisationsform für die Konsumgenossenschaften ist ein weiteres zentrales Thema in der Briefkorrespondenz. Denn neben dem von Schulze-Delitzsch gegründeten „Allgemeinen Verband der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ gab es ab 1867 den reichsweit agierenden „Verband deutscher Consum-Vereine“ aus Stuttgart von Eduard Pfeiffer. In den Briefen an Proebst setzt sich Schulze-Delitzsch für einen Zusammenschluss des Stuttgarter Verbands mit dem Allgemeinen Verband ein. Diese Position nahm Proebst später an. Ein weiteres Thema der Briefe ist die Bestrebung von Schulze-Delitzsch, das Deutsche Genossenschaftsgesetz in Bayern einzuführen, was 1873 gelang.

Brief von Hermann Schulze-Delitzsch an Franz Xaver Proebst vom 20. August 1875 (1).

Brief von Hermann Schulze-Delitzsch an Franz Xaver Proebst vom 20. August 1875 (2).

Brief von Hermann Schulze-Delitzsch an Franz Xaver Proebst vom 20. August 1875 (3).

Brief von Hermann Schulze-Delitzsch an Franz Xaver Proebst vom 20. August 1875 (4).

Brief von Hermann Schulze-Delitzsch an Franz Xaver Proebst vom 20. August 1875 (5). Fotos: Christof Dahlmann

Fazit: Ein langes Ringen der Genossenschaftspioniere

Der Historiker Ludwig Hüttl, der maßgeblich zur Genossenschaftsgeschichte in Bayern forschte, zieht folgendes Fazit zum Briefwechsel von Schulze-Delitzsch und Proebst: „Die Briefe zeigen: Es war ein langes Ringen um den richtigen Weg der Genossenschaftsorganisation/en, aber auch ein Ringen zwischen den maßgebenden Persönlichkeiten der Genossenschaftsbewegung in dieser Pionierzeit.“

Russische Dampfbäder statt Kuren in Teplitz

Mit der Zeit wird die Korrespondenz zwischen Hermann Schulze-Delitzsch und Franz Xaver Proebst immer vertrauter. So erfährt der Leser auch allerlei Privates über Schulze-Delitzsch. Beispielsweise über dessen regelmäßige Badekuren. In einem Schreiben vom 16. Juni 1873 erklärt dieser: „Im Augenblick ist Schneider (Mitarbeiter Franz Schneider, Anm. d. Red.) unterwegs, und meine Thätigkeit für die mit der Statistik stark befaßten Bureauarbeiten außer den sonstigen stark in Anspruch genommen. Ich brauche dabei russische Dampfbäder, um dem zweimaligen Übergehen von Teplitz beizukommen.“ Gemeint ist, dass Schulze-Delitzsch wegen der zahlreichen Aufgaben zweimal Kuren in Teplitz (Kurort rund 70 Kilometer südlich von Dresden gelegen, heute in Tschechien) ausgelassen hat. Russische Dampfbäder sollen das ausgleichen. Über die fehlende Zeit zur Erholung klagt er auch an anderer Stelle. So heißt es in einem Schreiben, datiert auf den 28. August 1875: „Leider kann ich in diesem Jahr nicht zu einem Landaufenthalt, der mir so Noth thut, und muß sehen, wie ich mir zum weiteren darüber weg helfe“. Immerhin reichte es für eine kurze Auszeit mit der Familie, denn in dem Brief heißt es weiter: „Seit zwei Tagen bin ich hier im Gebirge (Thüringer Wald, Anm. d. Red.), wo Frau und Tochter (Bertha Wilhelmine Schulze, geb. Jacobs, sowie Gertrud Schulze, Anm. d. Red.) die Sommerfrische genießen, um mir wenigstens 7-8 Tage Erholung zu gönnen, und manches zu den Congressen in München und Wien in Ruhe vorzubereiten.“

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