Krankmacher: Stress am Arbeitsplatz kann bis zur Kündigung führen. Wie können sich Unternehmen und Mitarbeitende davor schützen? Prof. Cornelia Niessen hat Antworten.
Mental Health ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. So lautet die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). „Mentale Gesundheit ist ein vielfältiges Spektrum. Wie sehr kann ich mein Leben positiv mitgestalten? Wie zufrieden und selbstwirksam bin ich in meinem Leben? Wie verbunden bin ich mit anderen Menschen und wie gut kann ich Hürden überwinden?“, ergänzt Nora Dietrich und fügt hinzu: „Mentale Gesundheit ist in alles eingewoben, was wir tun, und berührt jeden Bereich des Lebens – wie die WHO also sagt, ist sie weitaus mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Statt wie früher in Kategorien wie gesund oder krank zu denken, ist mentale Gesundheit nuancierter.“
Dietrich ist Psychologin, hat als Psychotherapeutin Erfahrung in der stationären und ambulanten Versorgung und ist Autorin des Buchs „Mental Health at Work. Wie wir unsere beste Arbeit machen und dabei gesund bleiben“. Für die Psychologin ist mentale Gesundheit ein wesentlicher Aspekt für gutes, gelungenes und vor allem gesundes Arbeiten. „Im Job wollen wir ja Menschen, die gestalten, die innovieren, die kritisch hinterfragen, Probleme lösen und Kundenbeziehungen aufbauen“, fährt die Expertin fort. Für all das sei mentale Gesundheit die tragende Säule. Sie präge, ob Potenzial ausgeschöpft werden könne und sei sozusagen der antreibende innere Motor.
Mentale Gesundheit ist kein Do-it-yourself-Projekt

Nora Dietrich ist Psychotherapeutin, Speakerin und Autorin. Sie setzt sich dafür ein, die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz in den Fokus zu rücken.
Allerdings ist mentale Gesundheit, und da mag sich in den vergangenen Jahren allerhand getan haben, kein Do-it-yourself-Projekt, bei dem der Einzelne möglichst gut für sich selbst sorgt. „Der Gedanke reicht nicht mehr: Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt“, betont Dietrich. „Mentale Gesundheit setzt sich aus der mentalen Gesundheit des Einzelnen und des Kollektivs zusammen.“ Schließlich bringt jedes Mitglied eines Teams seine mentale Gesundheit mit in die Arbeit.
Das Kollektiv in die Verantwortung zu holen, ist spätestens seit der Corona-Pandemie allgegenwärtig, hat die Psychologin festgestellt: „Die Pandemie fungierte als Evolutionsbeschleuniger, weil wir das erste Mal im Leben alle den gleichen Stress erlebt und die Härte der Konsequenzen gespürt haben: in Angst zu sein, nicht zu wissen, wie es weitergeht, manches nicht selbst entscheiden zu können und sich hilflos zu fühlen. Das war ein kollektives Erleben, das wir in dieser Form noch nicht geteilt hatten. In dieser Zeit rückte es auch in die Verantwortung der Arbeitgeber, dabei zu unterstützen, die Arbeitslast und die Belastung von außen gleichzeitig schultern zu können“, sagt Dietrich.
Die Corona-Zeit, so einschneidend sie war, sorgte zumindest für eines: Sie half dabei, über mentale Gesundheit nicht länger hinter vorgehaltener Hand zu flüstern. Das Bewusstsein kam auf, dass es für ein gesundes Miteinander Durchsetzungskraft bedarf und so viele Hände wie möglich.
Treibende Kraft für gesündere Arbeitswelt
Hilfreich für diese Entwicklung sind die Inspirationen der Generation Z. Diese Generation will, so schreibt Dietrich in ihrem Buch und erwähnt es auch im Gespräch mit „Profil“, eine Welt mitgestalten, die gesund ist. Menschen, die zwischen 1995 und 2010 geboren sind, haben eine gemeinsame Stärke: Sie sprechen über ihre Herausforderungen und holen sich gegebenenfalls Hilfe. Und sie fordern Veränderungen. „Sie sind somit die treibende Kraft für eine gesündere Arbeitswelt“, fasst Dietrich zusammen. Denn die Gen Z hat erkannt: Gesundheit lässt sich weder auf die Rente schieben noch delegieren.

Die Generation Z möchte anders leben und arbeiten: Das Thema Gesundheit schieben junge Menschen nicht erst auf die Rente. Foto: mauritius images / Perfect Wave
Junge Menschen beobachteten ihre Eltern in einer leistungsorientierten Welt und nahmen wahr, wie die Mutter abends nach der Arbeit völlig erschöpft aufs Sofa fiel. Doch bereits die Generation X, geboren zwischen 1965 und 1980, sieht mittlerweile den Wert von Therapien und hat die Bedeutung davon erkannt, Emotionen auch am Arbeitsplatz zu benennen und offen anzusprechen. Diese Eltern-Generation gibt somit an ihre Kinder das Signal weiter, präventiv zu handeln und nicht nur bereits lodernde Feuer zu löschen. „Mit der Konsequenz, dass die jungen Menschen jetzt dafür einstehen, dass sie anders arbeiten wollen“, sagt Dietrich.
Dank des Einflusses der Gen Z stellt Mental Health nun weit mehr als nur einen flüchtig vorbeiziehenden Trend in der Arbeitswelt dar: „Ein gesundes Leben ist nicht nur ein erfolgreiches Leben, sondern ein Leben, in dem auch andere Aspekte stattfinden dürfen“, erklärt Dietrich den Paradigmenwechsel. Arbeit sollte bestenfalls ein Ort sein, der seine Mitarbeitenden nicht nur fordert, sondern auch fördert. Angehörige der Gen Z wollen kontinuierlich lernen, es geht ihnen nicht nur darum, ohne nach links und rechts zu schauen, starr auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Sie stellen Arbeit neu in den Fokus, nicht als Ort, an dem nur Leistung zählt, sondern als lebendiges System von Beziehungen und Sinnstiftung. „Wer ein glückliches Leben lebt, ein besseres Miteinander pflegt, kann auch automatisch mehr Leistung bringen“, fasst Dietrich zusammen. Und somit wünschen sich junge Mitarbeitende von ihrem Arbeitgeber einen Raum für gesunde Arbeit. Denn: „Health is Wealth.“
„Gesundheit ist die Basis für Leistung und steht nicht in Konkurrenz zu ihr.“
Nora Dietrich, Psychologin
Bis zu fünf Generationen arbeiten derzeit zusammen – jede mit ihrer eigenen Perspektive auf Gesundheit. „Die Generation Z weist darauf hin, dass aufgeladene Batterien dabei helfen können, gute Ideen zu entwickeln“, fährt Dietrich fort. „Es ist kein Zeitverlust, in sich selbst und in das Team zu investieren. Gesundheit ist die Basis für Leistung und steht nicht in Konkurrenz zu ihr.“ Somit könne man sagen, dass von dieser Generation eine „Mini-Revolution“ ausgehe, sagt die Expertin.
Leben und Arbeit als Kollaborationspartner
Eine Revolution, die sich für die Balance zwischen Arbeit und Leben stark macht: die Work-Life-Balance. Psychotherapeutin Dietrich definiert diese so: „Es geht darum, Leben und Arbeit nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Kollaborationspartner zu sehen“, erklärt sie und formuliert den Begriff allerdings in „Work-Life-Cycle“ um. „Ein gutes Leben wirkt sich auf die Arbeit aus, ebenso hat die Arbeit einen großen Einfluss auf das Leben.“ Es sei also die Kunst zu verstehen, dass beide Bereiche gesund gestaltet werden müssen, damit sie einander positiv ergänzen. Die Parallelität zweier Welten wäre ungesund – sich 30 Jahren nur aufzuopfern und das Leben auf Sparflamme stattfinden zu lassen. „Es ist heutzutage keine Philosophie mehr, mit dem Leben bis zur Rente zu warten“, sagt Dietrich. Arbeit und Leben seien keine gegensätzlichen Entitäten.

Die Kunst ist, die richtige Balance zu finden. Foto: mauritius images / Ronstik / Alamy / Alamy Stock Photos
Zudem gäbe es überdies Phasen im Leben, in denen ein Bereich womöglich an Relevanz verliere oder gewinne, erwähnt Dietrich. „In den ersten Jahren mit einem Kind kann sich der Fokus verschieben. Andersherum ebenso. Wer seine eigene Firma gründet, lenkt den Fokus womöglich eine Zeitlang klar darauf und weniger aufs Private.“ Dabei darf nicht vergessen werden: Leben bedeute nicht nur Phasen der Erholung. Der immer lauter werdende Ruf nach Vereinbarkeit von Familie und Job kann auch daher rühren, dass Angehörige oder Nahestehende gepflegt werden müssen. In beiden Welten, der Arbeit und im Leben, wechseln sich somit Anspannung und Entspannung ab. Und Dietrich gibt auch zu bedenken: „In der Pflege von Angehörigen kommt auch nochmal einiges auf uns zu. Wir brauchen mehr Bewusstsein, was es bedeutet, Angehöriger zu sein.“
Eine gesunde Kultur mit Abwehrkräften
Der in Vorstellungsgesprächen angepriesene Obstkorb, ergonomische Schreibtische und Betriebsärzte, die gelegentlich ihre Runden drehen, machen einen gesunden Arbeitsplatz allein nicht mehr aus: „Es bedarf einer Organisationskultur, die Gesundheit in ihren Strukturen verankert“, schreibt Dietrich in ihrem Buch „Mental Health at Work“ und vergleicht die Kultur einer Organisation mit einem Immunsystem.
„Ein starkes Immunsystem zeigt sich besonders im Umgang mit Krisen, denn es verleiht der Organisation Abwehrkräfte. Teams mit einer gesunden, unterstützenden Kultur stehen selbst in schwierigen Zeiten zusammen und begegnen Herausforderungen mit einer gewissen Flexibilität und inneren Stabilität. So wie ein gesundes Immunsystem den Körper schnell regenerieren lässt, hilft die resiliente Kultur einer Organisation, sich rasch von Rückschlägen zu erholen und wieder auf Kurs zu kommen.“
Die Psychotherapeutin betont: „Arbeit per se ist nicht das Problem. Wir brauchen Arbeit für die Selbstwirksamkeit, Kompetenzentwicklung, unsere Autonomie, für Beziehungen.“ In vielen Diskussionen über die Work-Life-Balance klinge es oft so, als wäre Arbeit „schlecht“ und das Leben „gut“. Dietrich aber will auf etwas Anderes hinaus: „Die Frage sind die Rahmenbedingungen bei der Arbeit: Das Zusammenspiel aus Verhaltens- und Verhältnisprävention. In der Vergangenheit gab es nur einen Fokus auf das Verhalten des Einzelnen.“ Doch die Fähigkeiten des Einzelnen, zum Beispiel mit Stress umzugehen, laufen ins Leere, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen.

„Die Verhältnisse schaffen das Verhalten.“ – So kann auch eine Pflanze im Büro nur dann wachsen, wenn sie regelmäßig Wasser bekommt und genügend Licht zum Wachsen hat. Foto: mauritius images / Pawita warasiri / Alamy / Alamy Stock Photos
„Die Verhältnisse schaffen das Verhalten. Wenn die Verhältnisse es um einen herum es nicht erlauben, dann können die jeweiligen Skills noch so stark sein, ich kann sie nicht anwenden“, sagt Dietrich und zieht ein anschauliches Bild heran: Eine Büropflanze könne nur dann wachsen und gedeihen, wenn sie regelmäßig gegossen werde und sie gute Erde und genügend Licht zum Wachsen habe. „Eine Pflanze wächst nicht im Vakuum. Und so ist es auch für den Mitarbeitenden: Er braucht ein Umfeld mit Wachstumsmöglichkeiten, Feedback, Wertschätzung, genügend Pausen und Regenerationsräume ebenso wie anspruchsvolle Aufgaben, die begeistern und das Gefühl, genügend Zeit zu haben, Neues lernen zu dürfen.“
Belastung und Entlastung
Die Balance zwischen Arbeit und Leben ergibt die Work-Life-Balance. Dazu ist es hilfreich, sich aus arbeitsmedizinischer Sicht anzuschauen, was genau hinter diesen Begriffen steckt: „Im Arbeitszeitgesetz kennt man nur Arbeits- und Ruhezeit, das eine ist die Belastung, das andere ist die Entlastung. Wer ermüdet, stellt seine Belastung wieder zurück und lädt seinen Akku auf. Wie bei einem Smartphone, sonst wird der Bildschirm irgendwann schwarz“, erklärt Nils Backhaus, Leiter der Gruppe Arbeitszeit und Flexibilisierung an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. So sei zunächst nur definiert, dass die Ruhezeit nicht die Arbeitszeit ist und umgekehrt.

Nils Backhaus betreut Forschungsprojekte zum Thema Arbeitszeitgestaltung, flexible Arbeitszeiten, Telearbeit, Homeoffice und Mobiles Arbeiten. Foto: Uwe Völkner, Fotoagentur FOX
Idealerweise findet die Erholung am Stück statt. „Die Ruhezeit sollte zusammenhängend sein, weil die Erholung ein kontinuierlicher Prozess ist, der seine Zeit braucht. Wenn diese Phase aber unterbrochen wird – durch einen Anruf oder eine E-Mail, dann wird der Erholungsprozess gestört“, sagt Backhaus und fügt hinzu: „Hat eine Person allein nur das Gefühl, dass sie angerufen werden könnte, dann reicht dies schon aus, dass die Erholung schlechter wird und die Zufriedenheit abnimmt. Die Erholung ist insgesamt ein sehr störanfälliger Prozess.“
Es mag harmlos klingen, abends auf der Couch eine E-Mail zu beantworten. Doch Backhaus gibt zu bedenken: „Meistens sind die E-Mails, die nach der Arbeitszeit kommen, von Bedeutung und können auch mit negativen Themen verbunden sein, so dass diese nachwirken. Der Kopf lässt sich nicht einfach wie eine Maschine abschalten und arbeitet dann weiter. Der Empfänger der E-Mail beginnt, über den Inhalt nachzudenken, das Einschlafen wird schwieriger und die Nacht kürzer, so dass er am nächsten Tag womöglich bereits erschöpft zur Arbeit kommt.“ Das gedankliche Abschalten sei demnach als Erholungsfaktor nicht zu vernachlässigen.

Die Erholung sollte idealerweise nicht gestört werden, auch wenn es nur um das Beantworten einer E-Mail geht, sagt der promovierte Experte Nils Backhaus von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Foto: mauritius images / Westend61 / Angel Santana Garcia
Der Wechsel von der Arbeits- in die Freizeitrolle
Um abschalten zu können, benötigt der Einzelne gute Strategien. „Die Digitalisierung hat dafür gesorgt, dass sich Arbeit verdichtet hat, anspruchsvoller geworden ist, was die Menge pro Zeit und die Komplexität der Tätigkeiten sowie Multitasking angehen. Auch dadurch, dass man vernetzter als früher ist, fällt das Abschalten deutlich schwerer“, sagt der promovierte Psychologe.
Der Übergang von der Arbeits- in die Ruhezeit ist immer auch mit einem Rollenwechsel verbunden: der Wechsel von der Arbeitszeitrolle in die Freizeitrolle. Doch was ist Freizeit? Wie wird sie gestaltet? Abgesehen davon, dass Menschen für ihre Freizeit unterschiedliche Prioritäten haben – der eine möchte nur auf der Couch sitzen, während einer anderer sich beim Sport auspowert – steht diese Zeit nicht immer und allen nur zur freien Verfügung, es gibt oft auch Verpflichtungen, die erfüllt werden müssen. „Kinderbetreuung, ein Ehrenamt oder sogar die Ausführung einer weiteren Erwerbstätigkeit.“
Somit finden innerhalb der Ruhezeit weitere Rollenwechsel statt. Und genau das kann erschöpfen, da diese unterschiedlich aussehen können. Klingelt dann wieder das Telefon oder taucht eine wichtige E-Mail im Posteingang auf, kommt es wiederum zu einem Rollenwechsel. Der Prozess des Abschaltens und der Entspannung wird unterbrochen. Das Arbeits-Ich kehrt zurück und beansprucht Raum in der anderen Phase des Tages. Der Tag mag flexibler gestaltet werden können, doch aus arbeitswissenschaftlicher Sicht hat die Zerstückelung der beiden Phasen ihre Schattenseiten.
„Sprechen wir von Arbeit, reden wir eigentlich von Erwerbsarbeit. Doch es gibt weitere Formen von Arbeit wie zum Beispiel Sorgearbeit.“
Nils Backhaus von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Ebenso kann „Arbeit“ auch in anderer Form im „Leben“ stattfinden: „Sprechen wir von Arbeit, reden wir eigentlich von Erwerbsarbeit“, stellt Backhaus klar. „Doch es gibt weitere Formen der Arbeit wie zum Beispiel Sorgearbeit, also Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen. Diese fällt bei der Trennung von Ruhe- und Arbeitszeit immer unter den Tisch.“
Beruf, Arbeit und Privatleben
Hinkt der Begriff Work-Life-Balance, weil er nur vom Ausbalancieren zweier Lebensbereiche spricht? Wäre es treffender von dem Dreigespann Beruf, Arbeit und Privatleben zu sprechen? „Bezahlte Erwerbsarbeit muss von Arbeit unterschieden werden, die man zum Beispiel für die Familie tut. Arbeit, die elementar ist, damit unsere Gesellschaft überhaupt funktioniert“, sagt Backhaus.

Erwerbstätigkeit muss unterschieden werden von der Arbeit, die viele Menschen in ihrer Freizeit erledigen wie die Pflege von Angehörigen. Foto: mauritius images / Zhanna Danilova / Alamy / Alamy Stock Photos
„Work-Life-Balance hat durchaus seine Tücken“, sagt Backhaus. Das mag ein Grund dafür sein, dass es auch andere Beschreibungen wie zum Beispiel Work-Life-Integration gebe. Ein Gegenbegriff zur Work-Life-Balance, da sie Arbeit und Leben, so wie es auch die Psychologin Nora Dietrich sagt, nicht als gegensätzliche Pole sieht. „Arbeit gehört ja als sinnstiftendes Element zum Leben, Arbeit an sich ist nichts Schlechtes. Arbeit ist gut, stiftet Gesundheit, ermöglicht den Kontakt zu Leuten, die man sonst nicht kennenlernen würde. Arbeit gibt eine Tagesstruktur und einen Wochenrhythmus vor und bestenfalls entspricht die Arbeit den jeweiligen Neigungen“, sagt Backhaus. So werden die Grenzen zwischen Arbeit und Leben leicht auch mal fließender: Wenn es der Beruf zulässt, wird zwischen den beiden Bereichen eine integrative Verbindung hergestellt. So kann Privates während der Arbeitszeit und Berufliches während der Freizeit erledigt werden.
„Die meisten Menschen wollen Arbeit und Leben voneinander trennen, um gedanklich abschalten zu können.“
Nils Backhaus von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Backhaus und seine Kollegen von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erheben regelmäßig Daten zu diesem Thema. Unter anderem fragen sie Beschäftigte ab, wie wichtig es ihnen sei, zwischen Arbeit und Privatleben zu trennen. „75 Prozent bestätigen, dass eine Trennung für sie wichtig ist – das hat sich in den vergangenen Jahren nicht verändert“, sagt Backhaus. „Deswegen finde ich den Begriff Integration schwierig. Denn die meisten Menschen wollen Arbeit und Leben voneinander trennen, um gedanklich abschalten zu können.“
Die Balance zwischen Arbeit und Leben zu halten, ist für die Mehrheit der Beschäftigten von Bedeutung. „Balance indes ist kein vorgeschriebener Wert, sie lässt sich niemandem aufoktroyieren.“ Ein ungesundes Ungleichgewicht kann auch bei denjenigen entstehen, die stark in ihrer Arbeit aufgehen und vermeintlich keinen Feierabend brauchen. „Auch diejenigen, die gerne viel und lang arbeiten, müssen wir im Blick haben. Sie gilt es, vor sich selbst zu schützen, da sie häufig ihre Leistungsgrenze überschreiten. Leider bemerken viele zu spät, dass sie längst ausgebrannt sind und sich ihr Akku nicht mal schnell wieder aufladen lässt. Das ist die Rechnung, die man dann an die Gesundheit zahlt.“

Wer ausstempelt, markiert damit bewusst das Ende seiner Arbeitszeit. Das kann helfen, um einen gedanklichen Schlussstrich zu ziehen, sagt Psychologe Nils Backhaus. Foto: mauritius images / SZ Photo Creative / Florian Peljak
Um Schaden für die Beschäftigten abzuwenden, rückt daher die Erfassung der Arbeitszeit in den Fokus. Um Kontrolle gehe es dabei nicht, betont Psychologe Backhaus. „Wenn die Arbeitszeit erfasst wird, sieht der Einzelne: Wie hoch ist meine Arbeitsbelastung? Zu welchen Zeiten arbeite ich wie viel? Ebenso können Arbeitgeber sehen, dass ein Projekt womöglich völlig aus dem Ruder laufe, wenn die Arbeitszeiten zu sehr hoch gehen.“ Gerade auch in einer Zeit, in der viel flexibler und häufiger von zu Hause gearbeitet werde, habe die Zeiterfassung ihre Bedeutung. „Wir leben in einer Zeit, in der Arbeit und Freizeit immer mehr entgrenzt sind und Büro und privater Wohnbereich miteinander verschmelzen können. Da stellt das Ausloggen einen klaren gedanklichen Schlussstrich dar“, ordnet Backhaus aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ein. „Der Begriff Stempeln mag antiquiert sein, aber es hilft, mit dem Ausstempeln das Ende der Arbeitszeit zu markieren. Denn meinen Kopf kann ich nicht wie eine Maschine ausschalten. Einen ähnlichen Effekt kann es haben, wenn Beschäftigten die Einrichtung, in der sie arbeiten, nach ihrer Arbeitszeit verlassen – also zur Tür hinausgehen.“
Der Übergang muss gelingen
Die Arbeitswelt ist im Wandel – und sie wird es weiter sein. Balance halten zu können, die für Gesundheit in allen Bereichen des Lebens sorgt, bleibt eine Herausforderung. Doch mit der Erkenntnis, dass mentale Gesundheit „keine Krisenintervention, sondern eine Kulturtransformation“ ist, hat die Arbeitswelt laut der Psychologin und Buchautorin Nora Dietrich bereits einen riesigen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Ein gesundes Arbeiten und Leben, die harmonisieren, wird mittlerweile nicht erst durch Maßnahmen ermöglicht, die ins Spiel kommen, wenn es zu spät ist.
Die jeweiligen Bereiche des Lebens beziehungsweise die Phasen eines Tages sollten allerdings aktiv und bewusst voneinander getrennt werden, beobachtet Nils Backhaus von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Wer sich ausreichend erholt hat, kann dann auch wieder mehr leisten. Und dies meistert der Beschäftigte am besten, wenn die Übergänge gelingen. Wer demnach gut abschalten möchte, muss gekonnt umschalten können.