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Herr Hamm, Kicker, Obstkorb, Chill-out-Area – gibt es am Arbeitsplatz eine ultimative Formel, um Kreativität und Motivation zu boostern?

Ingo Hamm: In der Psychologie unterscheiden wir zwischen Kreativität und Motivation. Ein Mitarbeitender kann einen sehr unkreativen, aber sehr produktiven Job ausüben, bei dem er höchst motiviert ist. Nehmen wir zum Beispiel verschiedene handwerkliche Berufe – dann reden wir eher von Motivation als von Kreativität. Bleiben wir zuerst bei der Kreativität: Kreativität braucht einen freien Kopf, braucht Ablenkung vom Gewohnten, Alltäglichen, von dem, was eigentlich Sicherheit gibt, um bei der Sache zu bleiben und produktiv zu sein. Für Kreativität muss ich gedanklich ausbrechen können, mein Geist muss die Möglichkeit haben, sich gehen zu lassen.

„Kreativität braucht einen freien Kopf, braucht Ablenkung vom Gewohnten, Alltäglichen, von dem, was eigentlich Sicherheit gibt.“

Welche Umgebung braucht es dafür?

Hamm: Der Gang vor die Tür in eine andere Welt hilft ungemein, die Kreativität von Mitarbeitenden zu beflügeln. Wenn ich als Chef mein Team kreativ fördern möchte, sollte ich mir also überlegen: Kann ich ein Projekt oder einen Workshop nach draußen verlegen – zum Beispiel in den Garten oder in den Park? Kann ich ein Seminar auch in einer turbulenten Großstadt halten? Denn auch das Schnelllebige, die Hektik, die ungewohnte Umgebung, der Ausbruch aus dem gewohnten Alltag kann ein Kreativitätsbooster sein. Es muss nicht immer die grüne Idylle sein. Generell hat Bewegung einen positiven Effekt auf die Kreativität – mal ein paar Schritte gehen, mal ein kleiner Spaziergang. Dort kann der Mitarbeitende beides verbinden: Bewegung und die Gedanken schweifen lassen, den Blick in die Ferne richten. Apropos: Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat herausgefunden, dass bei der Arbeit am Computer sogar allein das Abschweifen des Blicks ausreicht, um Kreativität zu fördern.
 

Das bedeutet also, dass es gar nicht schlecht ist, wenn der Mitarbeitende im Büro aus dem Fenster schaut anstatt auf seinen Bildschirm?

Hamm: Richtig. Es ist eine überholte Vorstellung zu denken, dass ein Mitarbeitender faulenzt oder Langeweile hat, wenn er aus dem Fenster blickt.

Wenn ich Sie also richtig verstehe, haben Kicker, Obstkorb und Chill-out-Area eigentlich keinen Einfluss auf die Kreativität der Mitarbeitenden?

Hamm: Zumindest keinen großen. Das sind Pausenfunktionen, das sind Orte, an denen ich mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammenkomme. Das ist an sich eine gute Sache, aber auf die Kreativität haben Kicker, Obstkorb und Chill-out-Area meist keinen großen Effekt.
 

Kommen wir zur Motivation. Wie kann ich als Chefin oder Chef Mitarbeitende motivieren?

Hamm: Motiviert ist ein Mitarbeitender dann, wenn er das tun kann, was ihn im Innersten antreibt. Das hört sich völlig unspektakulär an, aber kommt im Arbeitsalltag dennoch oft viel zu kurz. Meetings, überbordende Bürokratie, zeitraubende Prozesse, Chefs, die über die Schulter schauen, kontrollieren und mit Arbeiten außerhalb der Reihe behelligen, nicht funktionierende IT – all das lenkt von der eigentlichen Tätigkeit ab und wirkt deshalb demotivierend. Nehmen diese Ereignisse über einen längeren Zeitraum überhand, kann das bei anfälligen Mitarbeitenden Depressionen fördern und sie in den Burn-out treiben. Diese Krankheiten entstehen auch durch übertriebene Fremdbestimmung, Kontrolle, zu strenge Vorgaben und fehlende Autonomie.
 

Also weniger Kontrolle, mehr Autonomie für die Mitarbeitenden?

Hamm: Grundsätzlich lässt sich sagen: Arbeit muss gar nicht neu erfunden werden, wenn der Arbeitgeber seine Mitarbeitenden das tun lässt, was sie wirklich im Innersten antreibt und was ihren Kompetenzen entspricht. Das ist die Verantwortung der Unternehmen und der Führungskräfte. Aber die Mitarbeitenden müssen ebenso selbst aktiv werden. Denn: Motivation ist Selbstverwirklichung. Dafür ist man selbst zuständig. Als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter muss ich mir immer wieder die Frage stellen: Was ist meine innere Neigung im Beruf? Wo kann ich meine Kompetenzen einbringen? Das herauszufinden und zu leben ist ein ganz wichtiger Schritt und passiert nicht über Nacht, sondern dauert Wochen, Monate, wahrscheinlich sogar Jahre.

„Die Einengung auf die gewohnte Arbeitsumgebung fördert zwar Produktivität, aber erstickt Kreativität.“

Sie haben gerade aufgezählt, was die Motivation abwürgt. Was sind Kreativitätskiller?

Hamm: Zum einen die Einengung auf die gewohnte Arbeitsumgebung. Das fördert zwar die Produktivität, aber erstickt Kreativität. Zum anderen sind Denkverbote zu nennen. Sie sind im kreativen Prozess ein No-Go. Würde ich Chefs fragen, ob es in ihrem Unternehmen Denkverbote gibt, würden 90 Prozent erst einmal vehement den Kopf schütteln. Aber Denkverbote entstehen schon im Kleinen – eine Idee kann zum Beispiel nicht umgesetzt werden, weil Budget fehlt. Auch das führt zu einem Denkverbot. Beim Blick auf Workshop-Konzepte wie etwa beim Design Thinking lässt sich feststellen: Alles darf erst einmal gedacht werden, Verbote gibt es nicht. Ich erlebe jedoch häufig bei Kreativ-Workshops als Coach, dass sogar die Anwesenheit des Chefs oder der Chefin die Mitarbeitenden im kreativen Prozess hemmen kann. Denn die Teilnehmenden fragen sich dann: Was will mein Vorgesetzter wohl am liebsten hören? Das ist natürlich nicht die Intention dahinter. Deshalb steht im Vorfeld oft die Frage im Raum: Soll der Chef überhaupt dabei sein?
 

Wie kann ich als Vorstand einer Genossenschaft die Motivation der Mitarbeitenden noch fördern?

Hamm: Zum Beispiel, indem ich außerplanmäßige Budgets bereitstelle, um neue Projekte in die Wege zu leiten. Motivierend können sich auch Personalentscheidungen auswirken. Das bedeutet: Wenn ein Mitarbeitender etwas Neues, Außergewöhnliches hervorgebracht hat, kann ich das durch eine Beförderung sichtbar machen. Auch das Thema Fehlerkultur ist wichtig, um Mitarbeitende zu motivieren. Diese wird jedoch oft falsch verstanden. Fehlerkultur heißt nicht, Qualitätsstandards und Professionalität zu opfern. Fehlerkultur heißt nicht, sich für Misserfolge auch noch zu feiern. Das halte ich für gefährlich. Fehlerkultur bedeutet für mich, Projekte zu schaffen mit klar erkennbaren Rahmenbedingungen für Experimente. In diesen darf ausprobiert werden und etwas schiefgehen. Nehmen wir die IT-Branche, von der auch andere lernen können: Dort gibt es die Entwicklungs- und die Launchphase. In der Entwicklungsphase können die Mitarbeitenden Systeme testen und auf die Nase fallen, dort sind Fehler erlaubt. In der Launchphase wird es jedoch ernst. Dann ist höchste Professionalität gefragt. Im Grunde ist es wie im Sport: Es gibt eine Spiel- und Testumgebung. Im Training dürfen Fehler gemacht werden. Aber im Spiel kommt es darauf an. Dann muss alles sitzen.
 

Unternehmen überbieten sich mit gut klingenden Sinnversprechen. Motiviert das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Hamm: Unternehmen versuchen immer mehr, mit überhöhten und nicht leistbaren Sinnversprechen für sich zu werben und junge Talente für sich zu gewinnen. Ein Beispiel: „We move you“, also „Wir bewegen dich“. Das klingt nach der Revolution der Mobilität. Dahinter steckt jedoch die Finanzdienstleistungssparte eines großen Automobilkonzerns. Oder: „We re-imagine fashion for the good of all“, also „Wir denken Mode neu zum Guten für alle Menschen“. Das ist der Slogan eines bekannten Mode-Online-Versandhändlers. In meinen Augen ist das schon eine quasi-religiöse Überhöhung des eigenen wirtschaftlichen Tuns. Das Unternehmen vermittelt nach außen und nach innen, kurz die Welt retten zu wollen. Hier klaffen Anspruch und Realität auseinander so ähnlich wie beim „Green Washing“. Das empfinde ich als unehrlich und ist mit „Purpose Washing“ gleichzusetzen, bei dem Unternehmen eine eigentlich simple Tätigkeit überhöhen und in ein besonderes Licht rücken möchten. So etwas funktioniert nicht und ist auch nicht nötig.

Dann haben diese überzogenen Sinnversprechen also keinen Effekt darauf, dass die Mitarbeitenden den Sinn in ihrer Arbeit besser verinnerlichen?

Hamm: Man muss feststellen, dass trotz wohlformuliertem Unternehmenssinn, also dem „Purpose“, und vieler New-Work-Versprechungen viele Menschen mit ihrer Arbeit unzufrieden sind und sich trotz verordnetem Unternehmenssinn ganz persönlich sehr wohl die Sinn-Frage stellen.

„Sinn in der Arbeit lässt sich nicht verordnen. Man muss selbst seinen eigenen Sinn finden durch das eigene, ganz konkrete Tun.“

Und wie finde ich den Sinn bei meiner Arbeit?

Hamm: Es funktioniert nicht, wenn der „Purpose“ von außen oder von oben vorgegeben wird. Sinn lässt sich nicht verordnen. Man muss selbst seinen eigenen Sinn finden, in der eigenen Tätigkeit, durch das eigene, ganz konkrete Tun. Sinn taugt also nicht zu Werbezwecken. Ich würde eher sagen: Sinn ist Selbstverantwortung, aber auch Chefsache. Jeder Vorgesetzte, der seine Kolleginnen und Kollegen schätzt, sollte sie dabei unterstützen, Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Wenn Menschen, die ihren Sinn gefunden haben, diesen beschreiben, ist das immer sehr konkret und kompetenzbezogen, zum Beispiel: „Ich bin Krankenschwester und helfe Verletzten!“ Oder: „Ich bin Feuerwehrmann und rette Menschen aus brennenden Häusern.“
 

Auch das Thema Change-Prozesse bewegt die Arbeitswelt. Wie können diese gelingen?

Hamm: Häufig ist Veränderung mit einer großen Verunsicherung verbunden. Das ist die Herausforderung beim Change-Prozess. Hier ist das Wichtigste zu erklären, was man vorhat und warum dieser Wandel erforderlich ist. Zusätzlich zur Kommunikation muss die Unternehmensführung jedoch auch Sicherheit geben. Zum Beispiel: „Es findet ein Wandel statt, der tut weh, aber die Arbeitsplätze sind sicher.“ Manchmal hat ein Change-Prozess aber auch nicht absehbare Konsequenzen für die Mitarbeitenden, wenn beispielsweise unklar ist, ob alle Arbeitsplätze erhalten bleiben können. Dann ist es besser, klar, aktiv und offen gleich zu Beginn zu kommunizieren, was auf die Belegschaft zukommen könnte und ihr aber zugleich klarzumachen, nach Lösungen zu suchen.
 

Es hilft also nur, mit dem Mitarbeitenden reden, reden und nochmal reden?

Hamm: Die Kommunikation spielt bei einem Change-Prozess in einem Unternehmen eine entscheidende Rolle. So wird verhindert, dass die Gerüchteküche brodelt und das Polemische die Oberhand gewinnt. Das passiert schnell, wenn von der Unternehmensleitung nur häppchenweise Infos herausgegeben werden, denn so bleibt Raum für Spekulationen innerhalb der Belegschaft. Es beginnt die stille Post, die Wut der Mitarbeitenden wird größer. Das muss unbedingt verhindert werden – zum Beispiel durch sogenannte Change-Agents. Das sind Mitarbeitende, die vom Veränderungsprozess überzeugt sind und innerhalb der Belegschaft dafür sorgen, die positiven Facetten des Wandels zu verbreiten und negative Tendenzen zu verhindern. Es gibt eine Faustformel: Ein Drittel der Belegschaft sind Change-Agents, also die, die den Wandel begrüßen, ein weiteres Drittel ist neutral und das letzte Drittel kann nicht überzeugt werden von der Notwendigkeit einer Veränderung. Die Kunst der Führungsebene besteht nun darin, das erste Drittel so einzusetzen, dass es das neutrale zweite Drittel mitnimmt. Ist das geschehen, sind zwei Drittel der Mitarbeitenden grundsätzlich bereit, den Veränderungsprozess mitzugehen und mitzutragen. Das ist eine gute Voraussetzung, damit ein Wandel gelingen kann.

„Jedes Individuum braucht beides – sowohl das Sicherheits- als auch das Explorationsverhalten.“

Sie haben vorher gesagt, dass Veränderungen innerhalb der Belegschaft zu Verunsicherung führen. Wieso tun wir uns mit Veränderungen aus psychologischer Sicht so schwer?

Hamm: In uns existieren zwei Urmotive, die wir von Klein auf in uns tragen. Da ist zum einen das Sicherheitsmotiv. Das bedeutet: Es besteht der Wunsch nach Balance und Beständigkeit in unserem Leben sowie das Bedürfnis, am Gewohnten festzuhalten, uns mit Bekanntem und Vertrautem zu umgeben. Als Kind ist das die Mutter, in der Arbeit ist es mein gewohnter Arbeitsplatz, die vertrauten Kolleginnen und Kollegen, die Aufgaben, die ich schon immer auf eine bestimmte Art und Weise ausgeübt habe. Das gibt mir Sicherheit. Zum anderen ist im Menschen das Explorationsverhalten angelegt – das Kind will Neues kennenlernen, macht die ersten Schritte, entdeckt die Umwelt. Es begibt sich potenziell in Gefahr. Jedes Individuum braucht beides – sowohl das Sicherheits- als auch das Explorationsverhalten. Jeder kann für diese Motive aktiviert werden, wenn sie sich die Waage halten. Manche Unternehmen wollen bei einem Change-Prozess alles auf einmal auf den Kopf stellen und mutig in eine neue Richtung gehen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben aber trotzdem das Bedürfnis nach Sicherheit. Dann muss ich als Chef überlegen, wie ich ihnen dieses Gefühl vermitteln kann – zum Beispiel, indem betont wird, worauf man stolz sein kann und was unbedingt so bleiben soll, wie es ist.
 

Wie kann ich als Chef selbst einen Change-Prozess einläuten und mit gutem Beispiel vorangehen?

Hamm: Gleichberechtigung ist der erste Schritt. Das bedeutet zum Beispiel die Insignien der Macht abzulegen – das eigene Vorstandsbüro, den reservierten Parkplatz in vorderster Reihe. Das sind für die Belegschaft erkennbare Zeichen, dass auch die Führungsetage bereit ist für Veränderung und einen Kulturwandel.
 

„Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele“ ist das wohl am weitesten verbreitete Zitat des Genossenschaftspioniers Friedrich Wilhelm Raiffeisen. So simpel die Aussage, so sehr steht sie doch auch für eine herausragende Eigenschaft der genossenschaftlichen Idee: die Kraft der Gemeinschaft. Wie kann ich als Chefin oder Chef einer Genossenschaft diesen Satz mit Leben füllen?
 

Hamm: Zum einen kann ich die Mitarbeitenden darin bestärken, das zu tun, was sie gerne machen – indem ich ihre Kompetenzen im Blick habe und für passende Arbeits- und Rahmenbedingungen sorge. Zum anderen geht es darum, die genossenschaftlichen Werte auch zu leben und hochzuhalten. Genossenschaft steht für die Kraft der Gemeinschaft, Solidarität, Miteinander, Demokratie. Als Chef einer Genossenschaft muss ich deswegen alle Signale vermeiden, die diesen Werten zuwiderlaufen. Alle Insignien der Macht werden dann umso kritischer von innen und von außen beäugt und hinterfragt.


Herr Hamm, vielen Dank für das Gespräch!


Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt und Autor.

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