Diese Website verwendet Cookies. Wenn Sie unsere Seiten nutzen, erklären Sie sich hiermit einverstanden. Weitere Informationen

    Anzeige

Anzeige

Mit Ursula von der Leyen möchte man im Moment nicht tauschen. Seit ihrem Amtsantritt am 1. Dezember 2019 hatte die Präsidentin der EU-Kommission noch nicht viel Gelegenheit, ihre politische Agenda voranzutreiben. Stattdessen eilt sie als politische Feuerwehrfrau der EU von einem Brandherd zum nächsten. Kaum scheint ein Feuer eingedämmt, brennt es anderswo lichterloh. Nur wenige Monate nach von der Leyens Wechsel nach Brüssel brach die Corona-Pandemie über Europa und die Welt herein. Als das Gröbste überstanden schien, machten gerissene Lieferketten, die zunehmende Inflation und Preisschocks bei Energie und Nahrungsmitteln alle Hoffnung auf eine baldige Besserung der wirtschaftlichen Lage zunichte. Und dann kam der Ukraine-Krieg. Darüber hinaus steht auch der Klimaschutz nach wie vor auf der Agenda der EU.

Von einer Krise zur nächsten

Eine schwierige Gemengelage also zur Halbzeit der aktuellen EU-Kommission. „Europa stolpert von einer schwierigen Lage in die nächste. Die Krisen sind viel enger getaktet als unter von der Leyens Vorgängern“, sagt Europa-Experte Jörg Köpke vom Centrum für Europäische Politik (cep) in Freiburg. Dabei sei von der Leyen mit einer ambitionierten Agenda für mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz in der EU angetreten. Dafür stehen von ihr ausgerufene Initiativen wie der Green Deal oder das Maßnahmenpaket „Fit für 55“ mit dem Ziel, die Netto-Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken. „Die aktuelle Situation hat von der Leyen einen Strich durch die Rechnung gemacht, ihre Pläne zügig umzusetzen“, bilanziert Köpke, der die nächste Krise schon heraufziehen sieht.

Die Zinswende der Europäischen Zentralbank (EZB) in Verbindung mit der anziehenden Inflation und der Gefahr einer globalen Rezession seien eine toxische Mischung für die Eurozone. Bereits jetzt steige der Zinsunterschied zwischen Italien und Deutschland spürbar an. Der Euro-Anleihemarkt fragmentiere sich. „Europa steckt in der Stagflationsfalle. Das könnte die Eurokrise wieder aufflammen lassen mit der Folge, dass die Eurozone und der Zusammenhalt der EU wieder grundsätzlich infrage gestellt werden“, sagt Köpke. Ihm sei das „Whatever it takes“ des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi noch in guter Erinnerung.

Angesichts der vielen Krisen müsse die Europäische Union dringend ihre Widerstandsfähigkeit und ihre Souveränität stärken, um handlungsfähig zu bleiben, fordert der cep-Experte. Dazu brauche es unter anderem eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine gemeinsame Verteidigungspolitik und eine gemeinsame Energiepolitik, um weniger stark von fremden Ressourcen abhängig zu sein. „Staaten wie Russland, China, Brasilien oder Indien agieren zunehmend feindselig und verfolgen ihre eigenen Interessen. Gegen sie muss sich Europa geopolitisch behaupten. Und wer weiß, wer 2024 als nächster US-Präsident ins Oval Office einziehen wird“, warnt Köpke.

Im Mai 2024 stehen die nächsten Europawahlen an

Um ihre ehrgeizigen Pläne umzusetzen, bleiben Ursula von der Leyen wahrscheinlich nur mehr zwei Jahre Zeit. Im Mai 2024 stehen die nächsten Europawahlen an, und laut Köpke sieht es Stand heute eher nicht nach einer Wiederwahl der aktuellen Kommissionspräsidentin aus. „Die Mehrheitsverhältnisse in Europa haben sich im Vergleich zur Europawahl 2019 gedreht. Da ist in der Zwischenzeit einiges passiert. In Deutschland stellt die SPD den Bundeskanzler und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist spätestens seit den Parlamentswahlen angezählt“, sagt Köpke.

Aktuell sieht der Europa-Experte des cep dennoch ein gewisses Momentum für Veränderungen in der EU. Auslöser ist der Ukraine-Krieg. Europa habe bei den Sanktionen gegen Russland seltene Einmütigkeit gezeigt, und auch Polen orientiere sich im Gegensatz zu Ungarn wieder mehr an rechtsstaatlichen Prinzipien. Sollte irgendwann auch das Einstimmigkeitsprinzip der Mitgliedsstaaten in zentralen Angelegenheiten der EU fallen, wäre die Union bei wichtigen Zukunftsentscheidungen nicht länger gelähmt. „Wir brauchen ein starkes Europa. Deshalb muss etwas passieren“, sagt Köpke.

80 Prozent der Gesetze werden in Europa gemacht

Losgelöst von den wichtigen Zukunftsfragen arbeitet die EU-Kommission ihre politische Agenda ab. Auch die hat es in sich. Die Liste der Vorhaben ist lang, und es gibt eigentlich keine bayerische Genossenschaft, die nicht irgendwo von europäischer Gesetzgebung betroffen ist. Das weiß auch Gregor Scheller, Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB). Mehr als die Hälfte der deutschen Gesetzgebung wird durch europäisches Recht bestimmt. In einzelnen Bereichen wie der Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Umweltpolitik sind es sogar bis zu 80 Prozent. „Europapolitik betrifft uns alle“, sagt Scheller. Einheitliche Regeln seien wichtig, denn auch Genossenschaften sind in die internationalen Warenströme eingebunden. „Allerdings machen eine überbordende Bürokratie und planwirtschaftliche Ansätze etwa bei der Taxonomie den Genossenschaften das Leben schwer. Hier gilt es, das richtige Maß zu finden. Deshalb setzt sich der GVB für verhältnismäßige Regeln und die Interessen des Mittelstands ein“, sagt Scheller.

So erhebt der Verband seine Stimme zu aktuellen Themen, beispielsweise der Umsetzung von Basel III und den damit verbundenen verschärften Eigenkapitalauflagen für Banken. Er drängt darauf, bei der Regulierung von Banken auf Proportionalität zu achten und kleinere und nicht-systemrelevante Institute nicht mit ständig neuen Auflagen zu erdrücken. Er scheut sich dabei auch nicht, den Finger immer wieder in die Wunde zu legen – etwa bei der europäischen Bankenunion und der geplanten Einlagensicherung EDIS (die wichtigsten Vorhaben der EU-Kommission und ihre Folgen für die bayerischen Genossenschaften hat „Profil“ in einem eigenen Beitrag in dieser Ausgabe zusammengefasst).

Seit über 70 Jahren Frieden

Thomas Höbel kennt alle diese Themen. Trotzdem macht er keinen Hehl aus seiner großen Sympathie für die Europäische Union. „Wir leben in der EU seit über 70 Jahren in Frieden zusammen. Das ist eine zentrale Errungenschaft Europas. Der Krieg in der Ukraine macht uns diesen Umstand umso mehr bewusst“, betont der Vorstandssprecher der Volksbank Raiffeisenbank Dachau. Höbel weiß gut, wovon er redet: Vor seiner Bankkarriere war er zwölf Jahre lang als Offizier bei der Bundeswehr tätig. „Nicht mehr allen Menschen ist bewusst, dass Bayern vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten noch eine streng bewachte Außengrenze zur DDR und zur Tschechoslowakei hatte. Solche Zeiten möchte ich nicht mehr erleben“, sagt er.

Auch durch den gemeinsamen EU-Binnenmarkt profitieren die Menschen. Dazu verweist Höbel auf eine Studie des Instituts für Weltwirtschaft Kiel aus dem Jahr 2019. Demnach hängen in Deutschland jedes Jahr fast 130 Milliarden Euro zusätzliche Wertschöpfung am Binnenmarkt. EU-weit geht es um fast eine Billion Euro. Was die abstrakten Zahlen andeuten, erlebt der Vorstandssprecher der Volksbank Raiffeisenbank Dachau bei seinen Gesprächen mit den mittelständischen Unternehmen in der Region jeden Tag in der Praxis. „Die EU-Freizügigkeit ist ein großes Plus. Sie sorgt dafür, dass die Betriebe unkompliziert Waren im- und exportieren oder Arbeitskräfte aus anderen Staaten rekrutieren können. Davon profitieren sie ungemein“, erklärt er.

Stabilität europäischer Banken nicht gefährden

Der Euro als gemeinsame Währung, die Abschaffung der Roaminggebühren für das Mobiltelefon, die gemeinsam erarbeiteten Standards: „Über solche und weitere Vorteile der EU ließe sich noch lange sprechen“, sagt Höbel. Doch bei allen unbestrittenen Verdiensten gibt es auch einige Vorhaben in Brüssel und Straßburg, mit denen der Vorstandssprecher hadert. Besonders ärgert er sich über die Pläne zur Vergemeinschaftung der Einlagensicherungssysteme. Seit mehreren Jahren treibt die EU-Kommission die Arbeiten an einer zentralen europäischen Einlagensicherung (EDIS) voran. „In Europa gibt es große Unterschiede in Bezug auf das Volumen notleidender Kredite oder auf Insolvenzprozesse. Es ist daher nicht sinnvoll, die Risiken zu vergemeinschaften und somit die Stabilität aller europäischer Banken zu gefährden. Das sollte die Kommission akzeptieren und ihre Pläne zu einem gemeinschaftlichen Einlagensicherungssystem verwerfen“, fordert Höbel.

Ein weiteres zentrales Vorhaben der aktuellen EU-Kommission ist der Green Deal. Die europäischen Banken sollen dabei eine Schlüsselrolle übernehmen, um die ausgerufenen Klima- und Energieziele zu erreichen. Sie sollen in nachhaltige Technologien und Unternehmen investieren. Zentrales Steuerungsinstrument ist die sogenannte Taxonomie, die Unternehmen und Investitionen nach ihrer Klimafreundlichkeit beurteilt. „Es ist unbestritten, dass wir die Erderwärmung begrenzen und Europa zum klimaneutralen Kontinent machen müssen. Dafür braucht es klare Orientierungspunkte. Wenn die EU aber ein bürokratisches Monster schafft, dann geht einerseits die Akzeptanz verloren und andererseits werden notwendige Innovationen blockiert“, betont Höbel.

Bürokratiemonster helfen niemandem

Als Beispiel verweist der Bankvorstand auf die Nachhaltigkeitsberichte. Vor Kurzem haben der Rat und das Europäische Parlament entschieden, die Berichtspflichten über das nachhaltige Engagement von Unternehmen deutlich auszuweiten. Doch je ausführlicher Unternehmen ihre Anstrengungen darstellen müssen, desto mehr Kapazitäten müssen sie dafür aufwenden. Beispielsweise müssen dafür teure Fachkräfte eingestellt werden. Das Geld fehlt dann an anderer Stelle. „Ich bin mir unsicher, ob irgendjemandem geholfen ist, wenn unser Nachhaltigkeitsbericht 50 Seiten umfasst und so intensiv wie der Jahresabschluss geprüft wird“, sagt Höbel. Er hofft, dass der Green Deal den Kreditinstituten ausreichend Freiheiten bei der Kreditvergabe lässt. Schließlich liegt es im eigenen Interesse der Volksbanken und Raiffeisenbanken, in nachhaltige Unternehmen zu investieren. „Es entspricht unserem genossenschaftlichen Förderauftrag, das Geschäftsmodell stets an die Anforderungen der Zeit anzupassen und uns am langfristigen Wohl der Mitglieder auszurichten“, sagt der Vorstandssprecher.

Höbel ist bewusst, dass die Arbeit der politischen Entscheidungsträger in der EU nicht immer einfach ist. Schließlich gibt es viele nationale Besonderheiten zu beachten. Dennoch hofft er, dass die Regelwerke in Zukunft wieder einfacher und pragmatischer umzusetzen sind. „Ich bin seit über 15 Jahren im Vorstand der Volksbank Raiffeisenbank Dachau tätig. In dieser Zeit haben sich viele Vorschriften verkompliziert, oftmals ohne erkennbaren Nutzen. Regulierung sollte aber nicht zum Selbstzweck verkommen“, appelliert Höbel. Ziel sei es, zielgenauere und effektivere Regeln einzuführen und überflüssige Vorschriften zu überdenken. „Auf diese Weise könnte die Europäische Union noch besser dazu beitragen, auch in Zukunft als Garant für Stabilität und Wohlstand wahrgenommen zu werden“, sagt der Vorstandssprecher.

Nationale Umsetzung der EU-Gesetze oft ein Problem

Einfache und pragmatische Regeln – das wäre auch im Sinne von Stefan Dick, Geschäftsführer der Südstärke GmbH. Das genossenschaftliche Unternehmen mit Standorten im oberbayerischen Schrobenhausen und in Sünching in der Oberpfalz verarbeitet pro Jahr rund 600.000 Tonnen Kartoffeln zu 150.000 Tonnen Stärke und ihren Folgeprodukten (ein Porträt der Südstärke lesen Sie in „Profil“ 10/2021). Mit Blick auf Europa fordert Dick aber nicht nur einfache, sondern vor allem einheitliche Regeln. „Die EU-Gesetzgebung beeinflusst ganz maßgeblich die Geschäftstätigkeit der Südstärke, allerdings immer über die nationale Umsetzung in Deutschland. Hier sehen wir oft, dass die Umsetzung der EU-Rechtsetzung in Deutschland ganz anders läuft als in anderen Mitgliedsstaaten und dies dann zum Nachteil für uns wird“, sagt Dick.

Für den Kartoffelanbau sei die EU-Agrarpolitik von ganz entscheidender Bedeutung, gibt der Südstärke-Geschäftsführer ein Beispiel. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU erlaube es, den Anbau von Stärkekartoffeln mit freiwilligen Direktzahlungen des Staats zu koppeln. „Diese Möglichkeit wird von vielen EU-Ländern genutzt, von Deutschland aber nicht. Dies führt dazu, dass der Anbau von Stärkekartoffeln bei vielen Konkurrenten in der EU subventioniert wird, die Hersteller von Kartoffelstärke einen künstlich vergünstigten Rohstoff beziehen können und dadurch den Marktpreis für Stärke nach unten drücken. Dies führt zu einer direkten Benachteiligung unserer Anbauer“, kritisiert Dick.

Wenig Rücksicht auf Produktionsbedingungen

Auch bei der nationalen Umsetzung der EU-Pflanzenschutzrichtlinien gebe es große Unterschiede zu anderen Ländern, berichtet Dick. In Deutschland würden zum Beispiel Notfallzulassungen von Pflanzenschutzmitteln sehr restriktiv gehandhabt, während in anderen EU-Ländern sehr viel mehr Rücksicht auf die aktuellen Produktionsbedingungen genommen werde. „Im Bereich Pflanzenschutz beobachten wir immer mehr EU-Restriktionen bei der Zulassung und Verlängerung von Wirkstoffen. Dies erschwert eine effektive Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten und -schädlingen, leistet der Resistenzbildung Vorschub und vermindert die Erträge“, berichtet Dick. Die EU-Vorgabe, bis 2030 auf 50 Prozent des chemischen Pflanzenschutzes zu verzichten, sei mit der Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit pflanzlichen Rohstoffen und angesichts einer drohenden Welternährungskrise nicht vereinbar (zu den Auswirkungen des Green Deal auf die Landwirtschaft in Deutschland siehe auch den Gastbeitrag von Professor Rainer Kühl in dieser Ausgabe).

In manchen Fällen mache es sich die EU bei der Gesetzgebung auch einfach, kritisiert Dick. Anstatt messbare Ziele für die Artenvielfalt zu definieren, etwa wie viele Individuen und Arten auf einem Quadratmeter Fläche vorkommen, wolle die EU pauschal den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln halbieren. „Die Erreichung dieses Einsparziels ist zwar leicht zu messen, da es aber keine Ziele für den Artenschutz gibt, kann man nie feststellen, ob das eigentliche Ziel Artenvielfalt wirklich erreicht wird“, sagt der Südstärke-Geschäftsführer.

Binnenmarkt bringt unschätzbare Vorteile

Insgesamt überwiegen aber auch für Dick deutlich die Vorteile der EU-Integration. Die Nachteile entstünden größtenteils durch die nationale Umsetzung von EU-Regeln in Deutschland. „Die Südstärke erzielt 40 Prozent des Umsatzes im EU-Ausland. Der gemeinsame Binnenmarkt, gleiche oder ähnliche Regeln und eine gemeinsame Währung sind unschätzbare Vorteile“, sagt Dick. Zudem sei die EU auch ein Friedensprojekt. „Die wirtschaftliche Entwicklung der EU wäre ohne die Friedensgarantie eines einigen Europa gar nicht denkbar gewesen. Gerade die jüngsten Ereignisse zeigen doch, wie verheerend sich Unfrieden oder gar kriegerische Auseinandersetzungen auswirken“, sagt Dick.

Artikel lesen
Topthema