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Herr Professor Vöpel, Corona-Pandemie, Liefer-Engpässe, Inflation, Energie-Kosten und jetzt der Ukraine-Krieg – gefühlt erreichen die deutschen Unternehmen im Monatsrhythmus neue Hiobsbotschaften. Wie gut steckt die deutsche Wirtschaft diese Tiefschläge weg?

Henning Vöpel: Man muss sagen, alles in allem erstaunlich gut. Früher hätten sich solche Ereignisse stärker in die Wirtschaft hineingefressen und zu tiefen Krisen ausgeweitet. Das Vertrauen der Märkte in die Rettung durch Staat und Zentralbank ist offenbar sehr groß. Das kann sich mit der Rückkehr der Inflation und steigenden Schuldenständen womöglich bald ändern. Geopolitisch und makroökonomisch ist die Situation jedenfalls äußerst fragil. Jede weitere Krise könnte eine zu viel sein.
 

Was unterscheidet die aktuelle Wirtschaftslage von früheren großen und kleinen Krisen der deutschen Wirtschaft?

Vöpel: Die derzeitigen Krisen gehen vor allem auf Angebotsschocks zurück. Wichtige Güter wie Elektronikchips, Rohstoffe für die Industrie, Energie und sogar Nahrungsmittel werden plötzlich knapp. Vergangene Krisen wurden dagegen oft durch nachfrageseitige Verwerfungen und Paniken ausgelöst. Angebotsschocks haben den Vorteil, dass sie von den Märkten besser verstanden und begründet werden können und daher keine Vertrauenskrisen auslösen, aber den Nachteil, dass Geld- und Fiskalpolitik kurzfristig kaum etwas dagegen tun können. Ungewöhnlich ist sicherlich auch die Gleichzeitigkeit der Krisen und deren Überlagerung. Zum Teil wurden die Krisen durch die enormen Staatshilfen und die niedrigen Zinsen zurückgestaut. Nun haben wir eine makroökonomische Situation, die noch vor gut zwei Jahren als nahezu ausgeschlossen galt: eine Form der Stagflation.
 

Welche Herausforderungen bringt die aktuelle wirtschaftliche Gemengelage für die Unternehmen mit sich?

Vöpel: Die größten Herausforderungen sind der permanente Krisenmodus einerseits und die gewaltigen Transformationsaufgaben andererseits. Wir sehen, dass die derzeitigen Krisen den Strukturwandel verschärfen. Von daher wären Unternehmen gut beraten, die aktuelle Lage als Chance für eine beschleunigte Transformation zu begreifen und sie nicht als Ausrede zu nehmen, um die nötige Anpassung an neue Gegebenheiten auf die lange Bank zu schieben.

„Die Fähigkeit, sich spontan auf kurzfristig stark veränderte Bedingungen einstellen zu können, wird zu einer Überlebensfrage von Unternehmen.“

Wie können Unternehmen in solchen Zeiten voller unvorhersehbarer Ereignisse überhaupt noch vernünftig planen?

Vöpel: Komplexität bedeutet, dass sich Zusammenhänge nicht mehr linear abbilden lassen. Dadurch wird die Zukunft kaum noch vorhersagbar. Das wiederum erfordert von den Unternehmen agiles Management, also die Fähigkeit, sich spontan auf kurzfristig stark veränderte Bedingungen einstellen zu können. Diese Fähigkeit zu entwickeln, wird zu einer Überlebensfrage von Unternehmen. Darauf zu hoffen, dass wir bald wieder in unsere alte lineare Welt zurückkehren, wäre gefährlich.

„Viele Unternehmen wollen ihre Lieferketten robuster gestalten. Diversifizierung ist die Lösung, nicht Autarkie.“

Allein die Havarie des Containerschiffs „Ever Given“ im Suezkanal hat gezeigt, wie anfällig die globalen Lieferketten sind, um nur ein Beispiel von vielen aus dem vergangenen Jahr herauszugreifen. Inwiefern ist die Globalisierung der Wirtschaft durch die aktuellen Entwicklungen an ihre Grenzen gekommen?

Vöpel: Globale Vernetzung bietet viele Kostenvorteile sowie Absatz- und Zulieferungsmöglichkeiten, sie macht aber auch verwundbar. Die im Suezkanal havarierte „Ever Given“ ist vielleicht das Symbolbild einer aus der Balance geratenen Globalisierung. Viele Unternehmen werden in Zukunft schauen, wie sie ihre Lieferketten robuster gestalten und diesbezügliche Risiken besser managen können. Politisch kann man jedoch nur davor warnen, jetzt Autarkie zu fordern. Diese wäre ökonomisch sehr teuer und politisch gefährlich, weil diese Bestrebungen sich am Ende immer auch gegen einen selbst wenden. Diversifizierung ist daher die Lösung, nicht Autarkie. Dafür müssen wir die Globalisierung politisch offen halten.

Treffen die aktuellen Probleme große wie kleine Unternehmen gleichermaßen? Oder sehen Sie Unterschiede, etwa bei mittelständischen Unternehmen mit einem regionalen Geschäftsgebiet?

Vöpel: Eine harmonische Globalisierung begünstigt in der Tendenz größere Unternehmen, die schneller skalieren können. In einer eher ungemütlichen Globalisierung sehe ich durchaus Vorteile für mittelständische Unternehmen, weil sie ihre Lieferketten über persönliche Beziehungen und Vertrauen besser aufrechterhalten können. Ihr Marktrisiko ist außerdem weniger systemisch. Man muss aber trotzdem klar sagen, dass auch für den exportorientierten Mittelstand eine weniger offene Welt ein substanzielles Geschäftsrisiko ist.

„Nur die Krisensymptome mit viel Geld und der staatlichen Bazooka zuzuschütten, ist erkennbar eine Politik, die die nächsten Krisen provoziert.“

Was lief in der Vergangenheit falsch, dass es zu so einer Häufung von Krisen kommen konnte?

Vöpel: Es wurde massiv unterschätzt, dass es unterhalb der Krisen im globalen wirtschaftlichen Gefüge zu tektonischen Verschiebungen und Brüchen gekommen ist, ja, die signifikante Häufung von Krisen geradezu Ausdruck systemischer Veränderungen ist. Nur die Symptome mit viel Geld und der staatlichen Bazooka zuzuschütten, ist erkennbar eine Politik, die die nächsten Krisen provoziert. Es fehlte der politische Mut, vielleicht auch die konzeptionelle Fähigkeit, sich in einer krisenhaften Gegenwart auf eine grundlegend veränderte Zukunft besser vorzubereiten.

„Genossenschaften erweisen sich gerade in existenziellen Krisen als strukturell überlebensfähiger.“

Laut Statistischem Bundesamt gehören Genossenschaften zu den Unternehmen mit der niedrigsten Insolvenzrate in Deutschland. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Vöpel: Genossenschaften managen ihr gemeinsames Vermögen zu einem bestimmten Zweck. Das hält dazu an, langfristige Risiken stärker ins Kalkül einzubeziehen. Zudem ist die Kontrolle untereinander stärker. Beides führt zu einer hohen Krisenresilienz, gerade was existenzielle Fortführungs- und Bestandsrisiken von Unternehmen betrifft. Nicht überraschend also, dass gerade in existenziellen Krisen Genossenschaften sich als strukturell überlebensfähiger erweisen.
 

Woran könnte das liegen?

Vöpel: Genossenschaften verfolgen eben nicht nur das Ziel der bestmöglichen Geschäftsentwicklung, sondern wesentlich das Ziel der gemeinsamen Vermögensentwicklung und -sicherung. Ein Kollektiv agiert bei Entscheidungen gegenüber einer Einzelmeinung oft weniger risikofreudig, weil unterschiedliche Erfahrungen in die Beurteilung der Lage einfließen und Informationen auf einer breiteren Basis bewertet werden. Gerade in existenziellen Krisen kann so ein Korrektiv dabei helfen, ein Unternehmen sicher durch unruhiges Fahrwasser zu steuern.

„Eine Unternehmensstrategie darf nicht mehr nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren, sondern sie muss qualitativ sehr unterschiedliche Entwicklungen ausdrücklich einbeziehen.“

Was können Unternehmen ganz generell aus der aktuellen wirtschaftlichen Lage für die Zukunft lernen?

Vöpel: Dass es immer wichtiger wird, nicht in einfachen Situationen, sondern in komplexen Szenarien zu denken und zu planen. Nicht mehr „just in time“, sondern „just in case“ wird zum Leitprinzip der Unternehmensstrategie. Eine Strategie darf nicht mehr nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren, sondern sie muss qualitativ sehr unterschiedliche Entwicklungen ausdrücklich einbeziehen.

Herr Professor Vöpel, herzlichen Dank für das Interview!
 

Prof. Dr. Henning Vöpel ist seit Januar 2022 Vorstand des Centrums für Europäische Politik (cep) in Freiburg und Berlin. Zudem wurde er im Oktober 2021 als Professor für Volkswirtschaftslehre an die BSP Business and Law School in Hamburg berufen. Zuvor war er von 2014 bis 2021 Direktor und Geschäftsführer des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) sowie von 2010 bis 2021 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hamburg School of Business and Administration HSBA.

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