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Herr Professor Schnabl, die Europäische Zentralbank hält eisern an ihrer expansiven Geldpolitik fest, obwohl die gefährlichen Nebenwirkungen immer offensichtlicher werden. Wie könnte die neue EZB-Chefin Christine Lagarde dieses Dilemma lösen?

Gunther Schnabl: Die Richtung ist aus meiner Sicht klar, auch wenn dies bei der EZB in Frankfurt wohl anders gesehen wird. Aufgrund der negativen Wachstums- und Verteilungseffekte muss die ultralockere Geldpolitik vorsichtig gestrafft werden. Ich denke an 0,25 Prozentpunkte pro Jahr über einen langen Zeitraum hinweg, zum Beispiel 20 Jahre. Die Unternehmen wären dann gezwungen, ihre Produktivität langsam wieder zu erhöhen. Die faulen Kredite in den Bilanzen einiger Banken im Eurogebiet müssten reduziert werden. Die Staaten müssten ihre Ausgaben zurückfahren und Verschuldung abbauen. All das würde der privaten wirtschaftlichen Aktivität wieder mehr Luft verschaffen. Vor allem der Mittelstand, die kleinen und mittleren Banken sowie die Mittelschicht würden profitieren. Das so erzeugte Wachstum könnte an die Bürger in Form höherer positiver Zinsen und realer Lohnsteigerungen weitergegeben werden.

Die Kernaussagen von Professor Schnabl in Kürze

  • Die EZB muss ihre ultralockere Geldpolitik wegen der negativen Wachstums- und Verteilungseffekte vorsichtig straffen
  • Die Ankäufe von Staats- und Unternehmensanleihen sollte sie sofort beenden
  • Davon würden vor allem der Mittelstand, die kleinen und mittleren Banken sowie die Mittelschicht profitieren
  • Die Wirkungsweise der Geldpolitik hat sich seit den 1980er Jahren verändert
  • In erster Linie steigen die Vermögenspreise und nicht die Konsumentenpreise
  • Eine grüne Geldpolitik der EZB wäre äußerst bedenklich

Welche Maßnahmen sollte die EZB als Erstes ergreifen, um zu einer angemessenen Geldpolitik ohne gefährliche Nebenwirkungen zurückzukehren?

Schnabl: Die Ankäufe von Vermögenswerten, insbesondere von Staats- und Unternehmensanleihen, müssten sofort beendet werden. Zudem müssten die negativen Zinsen schnell abgeschafft werden, weil sie die Banken schädigen. Auch die Regulierung muss reduziert werden, um wieder mehr Flexibilität zuzulassen.

„Die EZB müsste ihre Ankäufe von Vermögenswerten sofort beenden.“

Bislang hält die EZB an ihrer expansiven Geldpolitik fest, um ihr Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ zu erreichen. Das ist ihre Definition von Geldwertstabilität. Warum ausgerechnet „unter, aber nahe zwei Prozent“?

Schnabl: Die Inflationsziele sind bei vielen Zentralbanken seit den 1990er Jahren in Mode gekommen. Sie sollen die Konsumenten vor einem zu hohen Anstieg der Konsumentenpreise schützen. Ein Inflationsziel von null Prozent würde der Preisstabilität entsprechen. Da die Zentralbanken aber davon ausgehen, dass fallende Preise negativ auf das Wachstum wirken, erachten sie einen Sicherheitsabstand von der Nullgrenze als sinnvoll. Der Wert von zwei Prozent, der sich bei vielen Zentralbanken als Richtwert eingebürgert hat, ist zwar willkürlich. Nichtsdestotrotz muss eine bestimmte Zahl genannt werden.
 

Wobei sich die EZB mit ihrer Definition des Inflationsziels von „unter, aber nahe zwei Prozent“ gewisse Spielräume offen hält …

Schnabl: Im Jahr 1999, als die Europäische Zentralbank ihre Arbeit aufgenommen hat, sollte die Schwelle von zwei Prozent nicht überschritten werden. Das war ein Maximalziel. Erst bei der Revision des geldpolitischen Rahmenwerks im Jahr 2003 wurde der Zielwert auf „unter, aber nahe zwei Prozent“, also auf ein Punktziel, verändert. Im Nachhinein war das eine sehr bedeutende Veränderung. Denn zwischen März 2015 und Dezember 2018 lag die Inflationsrate zwischen null und 1,7 Prozent. Das Maximalziel wäre also erreicht gewesen. Das Punktziel von unter, aber nahe zwei Prozent rechtfertigte hingegen Anleihekäufe der EZB in Höhe von 2.600 Milliarden Euro. Im September 2019 wurde die Wiederaufnahme der Anleihekäufe beschlossen, als die Inflationsrate im Euroraum bei 0,8 Prozent lag…

Damit leistet die EZB doch den Offenbarungseid, dass ihre Geldpolitik nicht wie erhofft wirkt. Wie erklären Sie sich das?

Schnabl: Die Wirkungsweise der Geldpolitik hat sich seit den 1980er Jahren verändert. Während in den 1970er Jahren Ausweitungen der Zentralbankbilanzen noch zu steigenden Preisen an den Ladenkassen geführt haben, haben seit den 1990er Jahren die zunehmend expansiven Geldpolitiken in erster Linie zu steigenden Vermögenspreisen geführt. In vielen Ländern sind beispielsweise die Aktien- und Immobilienpreise stark angestiegen. Gleichzeitig sind die Produktivitätsgewinne in vielen Ländern zurückgegangen und damit die realen Löhne unter Druck geraten. Viele Menschen suchen nach günstigen Gütern und Dienstleistungen. Das hat einen andauernden Preissenkungsdruck auf die Unternehmen erzeugt, der von günstigen Importen aus China noch verstärkt wurde.

Zur Person

Professor Dr. Gunther Schnabl (*1966) ist seit 2006 Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig. Sein Forschungsgebiet umfasst die internationalen Finanzmärkte, die Währungssysteme in Europa und Ostasien sowie die Geldpolitik der Zentralbanken mit einem besonderen Fokus auf Europa und Japan. Als Gastdozent und Gastforscher sammelte er an zahlreichen Universitäten internationale Erfahrung, unter anderem in Tokio, Washington, Stanford und Paris. Außerdem lernte er als Gastforscher verschiedene Zentralbanken von innen kennen, unter anderem die EZB, die Deutsche Bundesbank, die Bank of Japan und die FED in New York.

Investoren rechnen auch in Zukunft mit einer sehr geringen Inflation deutlich unter dem EZB-Ziel von knapp zwei Prozent. Woran liegt das?

Schnabl: Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass auf Dauer eine schwache wirtschaftliche Entwicklung und eine schwache Kaufkraft erwartet werden. Denn die Zentralbanken halten mit den niedrigen Zinsen sehr viele Investitionen beziehungsweise Unternehmen mit geringen Renditeerwartungen am Leben. Man spricht von einer „Zombifizierung“. Da deshalb die Produktivitätsgewinne stark abgesunken sind, ist auch die Grundlage für reale Lohnerhöhungen und reale positive Zinsen dahin geschmolzen.

„Wenn die Kaufkraft der Bürger stagniert, macht es auch keinen Sinn, Produktionskapazitäten auszuweiten.“

Wie wirken sich strukturelle Faktoren wie die demografische Entwicklung auf das Zinsniveau aus?

Schnabl: Es wird immer wieder argumentiert, dass alternde Gesellschaften in den Industrieländern mehr für die Rente sparen, was zu einer globalen Sparschwemme geführt habe. Zudem geht aus der Sicht mancher Beobachter die Nachfrage nach Kapital zurück, weil die Unternehmen weniger in Anlagevermögen als in Software investieren. Ich halte beide Argumente für verfehlt. Zu einem kann nicht gezeigt werden, dass in alternden Gesellschaften die Sparquoten der Haushalte systematisch angestiegen sind. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Mit fallenden Zinsen sind auch die Sparquoten der Haushalte zurückgegangen. Am extremsten ist diese Entwicklung im schnell alternden Japan, wo seit der japanischen Finanzmarktkrise (1998) auch die Löhne tendenziell fallen. Zudem halte ich den Rückgang der Investitionen in Anlagevermögen nicht für eine Ursache, sondern für eine Folge der zunehmend lockeren Geldpolitiken. Denn wenn die Kaufkraft der Bürger stagniert, macht es auch keinen Sinn, die Produktionskapazitäten auszuweiten. Viele Unternehmen spekulieren lieber auf den Vermögensmärkten, wo die Zentralbanken die Kurse nach oben treiben und in Finanzkrisen die Märkte mit billigem Geld stabilisieren.
 

Was würde passieren, wenn die EZB ihre Geldschleusen noch weiter öffnet?

Schnabl: Solange das von den Zentralbanken in Umlauf gebrachte Geld nicht bei der Mehrzahl der Bürger ankommt, wird es auch keine nennenswerte Konsumentenpreisinflation geben. Es wird immer deutlicher, dass vor allem die reichen Menschen, die Aktien und Immobilien halten, von der sehr lockeren Geldpolitik profitieren. Deshalb sind beispielsweise die Preise von Luxusgütern stark angestiegen, die für die Inflationsmessung keine große Rolle spielen. Hingegen sind seit der Jahrtausendwende für breite Schichten in den Industrieländern die realen Lohnerhöhungen eher gering ausgefallen. Auch die Ersparnisse bei den Banken verzinsen sich nicht mehr. Wenn die Kaufkraft stagniert, verwundert es nicht, dass die Preise nicht steigen. Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass früher oder später die derzeitige Flucht in Sachwerte von einer Flucht in den Konsum abgelöst wird, zum Beispiel wenn Vermögenswerte den Menschen zu teuer werden.

Sie haben es gerade gesagt: Die Preise von Luxusgütern und Immobilien spielen für die Inflationsmessung keine große Rolle. Die EZB orientiert ihre Geldpolitik am sogenannten Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), der die Teuerungsrate in Europa misst. Dort wird zum Beispiel selbst genutztes Wohneigentum nicht berücksichtigt. Ist der HVPI zur Messung der Inflation überhaupt geeignet?

Schnabl: Der zugrundeliegende Warenkorb umfasst nur einen kleinen Teil der Güter und Dienstleistungen, die wir täglich konsumieren. Öffentliche Güter, selbstgenutzte Immobilien sowie Vermögenswerte wie Aktien oder Gold sind nicht enthalten. Zudem führt die sogenannte hedonische Preismessung zu Verzerrungen: Wenn die Qualität von Gütern ansteigt, werden die Preise in der Statistik nach unten gerechnet. Qualitätsverschlechterungen – zum Beispiel die Verminderung von Dienstleistungen oder wachsende Anteile von Plastik bei Gütern des alltäglichen Gebrauchs – werden hingegen nicht zum Anlass genommen, die Preise hochzurechnen. Es ist zudem nicht einmal klar, ob der harmonisierte Konsumentenpreisindex, dessen Berechnung von Eurostat vorgegeben wird, auf die geldpolitischen Impulse überhaupt noch reagiert.

„Die EZB sollte die Auswirkungen ihrer Politik auf die Vermögensmärkte berücksichtigen.“

Gibt es aus Ihrer Sicht bessere Indikatoren für das Inflationsziel als den HVPI, nach denen die EZB ihre Geldpolitik steuern kann?

Schnabl: Die Vermögensmärkte reagieren sehr sensibel auf geldpolitische Entscheidungen. Weltweit sind seit den 1980er Jahren die Aktien- und Immobilienpreise sehr kräftig angestiegen. Die starken Schwankungen der Vermögenspreise sind mit einschneidenden Krisen einhergegangen. Deshalb sollte die EZB die Auswirkungen ihrer Politik auf die Vermögensmärkte berücksichtigen, auch wenn das in der geldpolitischen Praxis nicht einfach ist.
 

Die EZB hat inzwischen selbst eingeräumt, dass ihre Geldpolitik gefährliche Nebenwirkungen zeigt. EZB-Chefin Lagarde will die Strategie der Notenbank bald auf den Prüfstand stellen und unter anderem hinterfragen, ob das Inflationsziel der EZB noch zeitgemäß ist. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Schnabl: Ich befürchte, dass die Reform des geldpolitischen Rahmens nicht zu einer geldpolitischen Straffung führen wird. Es wird ein sogenanntes symmetrisches Inflationsziel diskutiert, bei dem über eine längere Frist das Inflationsziel im Schnitt bei zwei Prozent liegen soll. Das kann man so interpretieren, dass die Inflation längere Zeit über zwei Prozent liegen müsste, wenn sie zuvor lange unter zwei Prozent gelegen hat, um das Inflationsziel zu erreichen. Das würde einer weiteren geldpolitischen Lockerung entsprechen.

Zudem hat Christine Lagarde eine grüne Geldpolitik ins Spiel gebracht. Das könnte bedeuten, dass die EZB im Rahmen ihrer Anleihekaufprogramme bevorzugt Anleihen von Unternehmen erwirbt, die umweltfreundliche Güter produzieren oder in den Umwelt- oder Klimaschutz investieren. Wie bewerten Sie diesen Ansatz?

Schnabl: Ich halte eine grüne Geldpolitik aus drei Gründen für bedenklich. Erstens entfernt sich die EZB damit sehr weit von ihrem Mandat, Preisstabilität zu gewährleisten. Zweitens könnte es zu einem „Greenwashing“ kommen. Viele Unternehmen könnten ihren Anleihen einen grünen Anstrich geben, um in den Genuss günstiger oder sogar negativer Zinsen zu kommen. Die EZB müsste dann ständig überprüfen, ob die realisierten Investitionen auch wirklich dem Umwelt- und Klimaschutz dienen. Wenn dies nicht der Fall ist, könnte die Reputation der EZB leiden. Drittens könnte die Rettung von Umwelt und Klima der EZB auch als Rechtfertigung dazu dienen, die Anleihekäufe immer weiter fortzusetzen und auszudehnen. Zum Beispiel könnte sie immer mehr Anleihen der Europäischen Investitionsbank kaufen, die grüne Infrastrukturprojekte finanzieren.
 

Herr Professor Schnabl, herzlichen Dank für das Interview!

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